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dpa - Deutsche Presseagentur GmbH

Journalismus in der «Virtual Reality“: Erzählen in neuen Dimensionen

Für viele Medien geht das Zeitalter des „Text only“ zu Ende. Neue Darstellungs- und Erzählformen sind zwingend und begehrt. Die „New York Times“ geht aufregende erste Schritte in die virtuelle Realität.

Washington (dpa) − Fortschritt und Hoffnung ruhen in einer Schachtel. Mit dem Smartphone. Auf der fiebrigen Suche nach neuen Erzählformen ist die kastige Konstruktion des Google Cartboard eine Art medialer Meilenstein aus Pappe. Die „New York Times“ stellt über diesen Guckkasten erste Inhalte in virtueller Realität dar. Die Zukunft kommt zwar noch ein wenig wie im Selberbau bei „Yps“ daher: Dennoch sind die Eindrücke beim Zusehen, -hören und Erleben sehr intensiv. Durch einen Text ist diese Intensität schwer zu erzeugen.

 

Eines der ersten VR-Projekte der „New York Times“ war eine Trauerszene in Paris nach den entsetzlichen Terroranschlägen: Video über die App laden, Kopfhörer aufsetzen, die Pappschachtel mit ihren kleinen Linsen (wegen des 3D-Effekts) ans Gesicht drücken, Film ab − und tatsächlich ist man mitten in Paris, seinem Sound, bewegt sich wie live im 360-Grad-Panorama. Das Senken des Kopfs lenkt den Blick aufs Pflaster. Wer sich dreht, kreist in einem Blumenmeer. Den Kopf mit dem Cartboard gehoben: Oben der graue Himmel.

In den USA hat es 2015 neben dem der „New York Times“ eine Reihe sehr ambitionierter journalistischer VR-Projekte gegeben. Das „Project Syria“ der USC School of Cinematic Arts zum Beispiel. Es platziert den Nutzer mitten in die Szenerie eines Bombardements. Per Headset virtuell und in 3D. Unmittelbar darauf folgt ein Flüchtlingslager.

 

„Die Reaktionen sind außerordentlich“, sagt Nonny de la Peña der Zeitung „Des Moines Register“ aus Iowa (dort gab es ein anderes, großes VR-Projekt). Dieser „Ganzkörperjournalismus“ sei ein ganz unglaubliches Werkzeug, um Empathie zu erzeugen. „Präsenz! Wer so etwas sieht, nimmt wirklich teil. Er erlebt Inhalt ganz anders.“

 

Raney Aronson-Rath von der Journalistenschmiede Columbia University bringt es so auf den Punkt: «Unsere Reporter gehen oft dorthin, wo sonst niemand hinkommt. Ich frage mich schon lange, wie wir es schaffen, unseren Nutzern viel tiefere Einblicke zu ermöglichen: Sie müssen fühlen können, wie es wirklich ist, an diesem Ort zu sein.“

 

Die „New York Times“ ist nicht das einzige US-Medium, das sich im Virtuellen ausprobiert, ein gutes Dutzend anderer Unternehmen tut das hierzulande ebenfalls, unter anderem Gannett, PBS, Vice und das „Wall Street Journal“. Aber die „NYT» ist besonders erfolgreich. Im November gestartet, wurde ihre VR-App in den ersten vier Tagen öfter geladen als jede andere der Times zuvor. Zum Vergleich: Bisher hielt die Koch-App den Rekord, 300 000 Downloads in vier Tagen.

 

„Für uns ist das ein ganz entscheidender Punkt“, sagt Andy Wright von der „NYT» zu „Politico“. „Es ist der Moment, wo sich virtuelle Realität für viele, viele Leute zu normalisieren beginnt.“

 

Die Partnerschaft zum mächtigen Google-Konzern und seinem Cartboard ist da natürlich hilfreich. Finanziert werden die teuren VR-Projekte der Times auch über gesponserte Videos (Mini, General Electric).

 

Mitch Gelman, Medienkonzern Gannett, sagt: «Wir müssen herausfinden, wie wir unsere Inhalte der jüngeren Generation kommunizieren. Wie sie echte Nachrichten aufnehmen, echte Ereignisse − und wie sich diese Aufnahme von der Aufnahme fiktionaler Ereignisse unterscheidet.“ Die Ansprüche der Nutzer sind hoch. Denn wenn Ton und Film keine authentische Top-Qualität haben, sind sie weg. Einen Klick weiter.

 

Neue Formate, neue Allianzen: Für manche journalistische 3D-Produktionen werden Spieledesigner angeheuert, kennen die sich doch mit deren Optik und Bildfluss am besten aus − anders als die meisten Journalisten, die über Textgattungen ausgebildet sind.

„Wir wären zum erwünschten Produkt überhaupt nicht dazu in der Lage“, sagt Fergus Pitt vom Tow Center an der Columbia. Die neuen Formen von Journalismus profitierten erheblich von „Gamern“ und deren Wissen um die Anforderungen neuer Zielgruppen. Quer durch die USA treffen sich VR-Arbeitsgruppen und Forscher, um genauer zu verstehen, welche Techniken und Fertigkeiten für die neuen Welten nötig sind.

 

„So etwas wie ein klassisches Storyboard oder Skript funktioniert im Virtuellen nicht“, sagt Pitt. „Das sehen Sie ja schon an der Frage, wie wir die „Verwender“ von VR nennen sollen: Zuschauer? Teilnehmer? Zuhörer?“

 

Das jüngste, kurz vor Weihnachten veröffentlichte Projekt der „New York Times“ ist schon weiter als Paris. Regisseur Daniel Askill nimmt den „Verwender“ mit auf einen atemberaubenden, ästhetischen Flug über New York − nebst Pappschachtel und Smartphone vor dem Gesicht.

 

Start in Manhattan, Stopp über den ersten Wolken, dort schweben und tanzen zu leisen Streichern unter anderem Charlize Theron, Michael Fassbender und Rooney Mara. Ein Senken des Kopfes: die Lichtpunkte der Stadt. Die Schachtel wieder gehoben: Da schwebt Benicio del Toro.

 

Das ist nun weniger Journalismus als Kunst. Aber dieses Genre steht erst ganz am Anfang. Das kommende Jahr wird für VR im Journalismus vielleicht noch nicht den großen Durchbruch bringen, aber auch diese Entwicklung wird sich beschleunigen.

 

Anwendungen wie Oculus Rift, die PlayStation VR oder der Samsung Gear VR bieten noch ganz andere Möglichkeiten. 2016 werden viele den Weg zu neuen Darstellungsformen weitergehen, zu anderem Erzählen − und vielleicht zu ganz neuen Zielgruppen, die auch noch bereit sind, Medienanbietern für die virtuelle Pracht echtes Geld zu bezahlen.

 

Von Martin Bialecki, dpa