Politik
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Ein Bürgermeister denkt quer

Ein Bürgermeister denkt quer Boris Palmer. Foto: Marcus Klose / Raufeld Medien

Auf der Redaktionskonferenz „Wir lieben Lokaljournalismus“ der Bundeszentrale für politische Bildung wurde es kontrovers: Wie über die Flüchtlingsproblematik berichten? Von Stefan Wirner.

Berlin - Lokalredaktionen im Spannungsfeld zwischen Willkommenskultur, Fundamental-Kritik, Nähe, Distanz und Vorurteilen – darum ging es auf dem Podium der Redaktionskonferenz „Wir lieben Lokaljournalismus“ der Bundeszentrale für politische Bildung/bpb in Berlin. „Herausforderung Integration – Sternstunde der Demokratie“, so lautete der Titel. Eine Art „Sternstunde unterschiedlicher Meinungen“ wurde es tatsächlich.

 

Auf der Bühne vertreten waren Jana Klameth, stellvertretende Chefredakteurin der Freien Presse (Chemnitz), Wolfgang Kaschuba, Direktor des Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung Berlin, Sarah Brasack, stellvertretende Leiterin der Lokalredaktion Köln des „Kölner Stadt-Anzeigers“ und Erol Kamisli, Leseranwalt der „Lippischen Landes-Zeitung“ (Detmold) und Boris Palmer, der grüne Oberbürgermeister von Tübingen. Die Moderation übernahm Helge Matthiesen, Chefredakteur des Bonner General-Anzeigers.

 

Zunächst wollte Matthiesen von Palmer wissen, wie sich seiner Meinung nach lokale Medien in der ersten Zeit der Ankunft der Flüchtlinge im Jahr 2015 verhalten hätten.

 

„Die Lokalmedien haben anfangs keine Chance gehabt, es richtig zu machen, denn die großen Medien haben es falsch gemacht“, sagte Palmer. Sie hätten eine positive Stimmung verbreitet, und das sei falsch gewesen. Auch in der Tübinger Lokalzeitung seien etwa die Vorbildgeschichten gezeigt worden, die Familien, die angekommen seien, die ehrenamtlichen Helfer, und das sei eben nur ein Teil der Wirklichkeit gewesen, andere, negative Teile, seien ausgeblendet worden.

 

In der Folge entwickelte sich vor allem ein Disput zwischen Palmer und Migrationsforscher Kaschuba. Dieser meinte, dass in den großen Medien in jener Zeit viele alte – rassistische – Bilder eine große Rolle gespielt hätten. Erkenntnis sei für ihn gewesen: „Nichts ist wichtiger als lokale Medien und lokale Politik.“

Er betonte, dass es nicht um eine Flüchtlingskrise, sondern um eine Kriegskrise gehe. Palmer erwiderte, dass er keine rassistischen Bilder gesehen habe, sondern eher die typischen Bilder von ankommenden Familien.

 

Ihre völlig unterschiedliche Bewertung der Berichterstattung trat besonders in der Diskussion über die Ereignisse an Silvester 2015 in Köln zutage. Für Kaschuba war die gesellschaftliche Debatte über Silvester in Köln „grotesk“, da Vergewaltiger plötzlich als Fremde identifiziert worden seien. Die Gesellschaft drifte nicht wegen der Flüchtlinge auseinander, sondern wegen anderer Dinge, wie der hohen Individualität. Palmer hingegen warf ein, gerade die Kölner Silvesterereignisse seien etwa im Fernsehen lange ausgeblendet worden.

 

An Kaschuba gewandt sagte er: „In ihrer Argumentation bin ich Rassist.“ Selbstverständlich habe es bei den Kölner Ereignissen eindeutige Hinweise gegeben, dass die Täter mit Zuwanderung zu tun gehabt hätten. Und das müsse man aussprechen. Er wolle, dass der Staat da eingreife. „Dafür lasse ich mich nicht Rassist schimpfen“, betonte Palmer.

 

Sarah Brasack vom "Kölner Stadt-Anzeiger" erzählte von den Folgen der Silvesternacht 2015 für ihre Zeitung. Der Kölner Stadt-Anzeiger habe an Vertrauen zurückgewonnen, weil man intensiv berichtet habe und den Behörden nachweisen konnte, was sie unterlassen hätten. Die Zeitung nenne nun auch öfter als früher die Nationalität von Tätern. Brasack warf Palmer Pauschalisierungen vor, wenn er von 1000 Tätern in der Silvesternacht spreche, es sei schließlich nur eine Handvoll verurteilt worden. „Das ist ja der Skandal“, warf Palmer daraufhin ein.

 

Kamisli, Leseranwalt der "Lippischen Landes-Zeitung", räumte zwar ein, dass die Zeitungen am Anfang der Flüchtlingswelle überfordert gewesen seien. Er widersprach aber der Behauptung, dass man sich gemein gemacht habe mit dem Thema und nur Positives berichtet habe. Bei ihm hätten Leser angerufen und von Gerüchten berichtet, etwa dass Flüchtlinge Kinder klauen würden. Die Redaktion habe daraufhin Faktenchecks gemacht, um die Gerüchte zu überprüfen. Daraufhin habe sich die Anrufswelle seitens der Leser auch wieder beruhigt.

 

Im Osten sei es etwas noch einmal anders gewesen, berichtete Klameth. „Die Pegida-Demos gab es ja schon vorher“, sagte sie. „Außerdem ging es gleich um Lügenpresse, Lügenpresse, Lügenpresse. Es war sehr unsachlich, es gab Aufrufe, die Zeitung abzubestellen etc. Es war auch schwierig, wieder in normales Fahrwasser zu kommen“, betonte sie. Man habe sich anschließend auf die handwerklichen Grundtugenden besonnen, Faktenchecks gemacht, ohne Scheuklappen alle Seiten beleuchtet. Dennoch seien in einer Lokalredaktion der Zeitung Ziegelsteine ins Fenster geworfen worden. Sie erzählte auch von der Praxis der Freien Presse, die in gewissen Fällen durchaus die Herkunft nenne, etwa wenn es um eine Diebesbande gehe, die eindeutig aus Osteuropa stamme. „Man kann das Phänomen sonst nicht erklären“, betonte sie.

 

Palmer sagte, er könne nur immer wieder auf die Probleme hinweisen. Er berichtete von einem Übergriff von schwarzen jungen Männern auf junge Frauen in einem Jugendclub. Die Lokalzeitung habe darüber berichtet, daraufhin sei sie in der Stadt heftig kritisiert worden. „Immer wenn man die Herkunft nennt, ist man Rassist. Dann kann man nicht mehr offen drüber reden. Das führt wie in diesem speziellen Fall dazu, dass sich die Opfer schon Gedanken machen, ob sie die Täter noch benennen dürfen“, meinte Palmer.

 

Autor: Stefan Wirner, Redaktionsleiter drehscheibe