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Georg Mascolo: Warum 2016 anders enden soll als 2015

Georg Mascolo: Warum 2016 anders enden soll als 2015 Georg Mascolo. Foto: WDR/Herby Sachs

Wie sollen Politik und Medien mit der neuen Völkerwanderung umgehen? Der Festvortrag von Georg Mascolo, Leiter des Rechercheverbundes von NDR, WDR und „Süddeutscher Zeitung“, beim Jahresempfang der Evangelischen Akademie Tutzing im Original.

Tutzing - Sie haben mich eingeladen, Ihnen über ein historisches Jahr zu berichten - mit dem Begriff muss man ja vorsichtig umgehen. Wir Journalisten verwenden jede Form von Superlativen und Steigerungsformen gern etwas zu großzügig. Aber das abgelaufene Jahr verdient das Attribut historisch.

 

Noch schwieriger ist, dass von mir auch ein Blick in die Zukunft erwartet wird. Über die aber lässt sich nur zweierlei sicher sagen. Sie sieht immer anders aus, als in der Gegenwart vorausgesagt. Meistens übersteigt sie unsere Phantasie und Kraft zur Prognose.

 

Sie sieht auf jeden Fall ganz anders aus, als sie von mir vorausgesagt wird.

 

Beginnen wir den Blick auf dieses Jahr, aber in einer anderen Zeit und nicht in Deutschland. In Genf, im Jahr 1951.

 

Damals traf sich eine Gruppe von Diplomaten aus 26 Staaten, ihr Auftrag lautete, die Lehren zu ziehen aus all dem, was die Welt zuvor erleiden musste: Unvorstellbaren Hass, Grausamkeit, Massenmord - der Zivilisationsbruch des Holocaust. Und nach dem Ende eines wahren Weltkrieges nicht das Ende des Elends sondern Vergeltung, die Flucht und Vertreibung von Millionen von Menschen. Die Zustände auf diesem verwüsteten Kontinent namens Europa hatte der spätere amerikanische Hochkommissar John McCloy kurz nach dem Krieg so beschrieben: Ein wirtschaftliches, soziales und politisches Chaos, beispiellos in der Geschichte, es sei denn man gehe zurück bis zum Untergang des Römisches Reiches.

 

Die Diplomatenrunde in Genf schuf nach 23-tägigen Verhandlungen ein neues Recht, das Recht auf Schutz vor Krieg und Verfolgung. Wer in seinem eigenen Staat nicht mehr sicher war - oder etwa aus politischen oder religiösen Gründen vor ihm fürchten musste - sollte an einem anderen Ort der Welt Zuflucht finden. Die Genfer Flüchtlingskonvention, die eigentlich etwas sperrig „Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“ heißt, war geboren. Das moderne Flüchtlingsrecht entstand. Es war einer dieser „Nie Wieder Momente“ zu denen die Weltgemeinschaft nur nach ihren dunkelsten Stunden in der Lage ist. Es war übrigens ein Recht, das zunächst nur für die Europäer galt.

 

65 Jahre später wiederholt sich die Geschichte, nur ein paar Flugstunden von hier entfernt versinkt eine Region im Chaos. Es herrschen Staatszerfall, Krieg und Bürgerkrieg und Terrorismus oft noch angefacht durch das religiöse Schisma des Islam. Die Auseinandersetzung zwischen zwei Theokratien, Iran und Saudi-Arabien ist ideologisch und politisch. Sie ist nicht weniger gefährlich, als der Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis. Wir können uns also aussuchen, wovor die Menschen fliehen: Vor säkularen Diktatoren, oder dem Irrsinn religiöser Fanatiker. Sie haben die Hoffnung aufgegeben, denn befreien sie sich einmal aus einer Diktatur, landen sie schnell in der Nächsten. Sie fliehen vor allem, aber aus Angst vor dem, was die Zukunft noch bringen mag, sie entfliehen der Perspektivlosigkeit. In einer Region, in der schon immer aus Hoffnung allzuoft wieder Verzweiflung wurde, steht heute nicht viel zum Guten. Konfessionelle, regionale und machtpolitische Konflikte überlagern sich.

 

Mich wundert nicht, dass so viele kommen. Sondern nur, dass es nicht noch viel mehr sind.

 

Und mittendrin in dieser Apokalypse nun wir Deutschen, die wir lange dachten, dass wir uns in der Welt lieber heraushalten sollten, ja vielleicht sogar heraushalten müssten, aufgrund unserer Geschichte. Aber es ist dieses Deutschland, ohne dessen Barbarei es wohl gar kein Flüchtlingsrecht geben würde, dass nun, ziemlich allein, ohne die USA und ohne fast alle der europäischen Partner, die Regeln und Reichweite eines humanitären Grundrechts neu bestimmt.

 

Es ist ein Rendezvous mit der eigenen Geschichte.

 

2015 ist ein Jahr der Erschütterung. Wenn wir die Nachrichten zum Jahresbeginn lesen, fragen wir uns: Kann es sein, dass wir dass Schlimmste gar nicht hinter sondern noch vor uns haben? Als ob das, was wir gesehen haben, nicht reichen würde: Ein mühsam gebändigter Krieg im Osten, im Süden der Zerfall. All das in unserer Nachbarschaft, was Europa eine der reichsten und friedlichsten Regionen der Welt, endgültig zum Zufluchtsort- und Sehnsuchtsort für Millionen werden lässt. Aber ausgerechnet wir Europäer, die wir nur aus der Erfahrung von Krieg und Krise zusammengefunden haben, sind nun unfähig sind, bei der Bewältigung eben solcher Herausforderungen in unserer Nachbarschaft zusammenzustehen.

 

Zur Erschütterung kommt die Erkenntnis: Es hat lange gedauert, bis wir erkannten, dass die Globalisierung nicht nur - zu unser aller Nutzen - die Waren beweglich gemacht hat. Sondern auch die Menschen. Zur Globalisierung gehören nicht nur die Containerriesen, die unseren Wohlstand mehren, sondern auch das Flüchtlingsboot. Wir hatten uns abgeschottet vom Elend dieser Welt und nicht einmal die Flucht von Millionen von syrischen Menschen aus ihrer Heimat in die angrenzenden Staaten hat uns dazu gebracht, unsere Politik zu überdenken. Vor nicht all zu langer Zeit stritten die deutschen Innenminister noch bei ihrem so genannten Kamingespräch in der Bonner Villa Hammerschmidt über die Frage, ob man 10.000 oder 20.0000 Syrer aufnehmen sollte - im Jahr - oder ob man angesichts der humanitären Katastrophe nicht endlich mit der Einführung von sicheren Herkunftsstaaten und konsequenter Abschiebung abgelehnter Asylbewerber Platz machen müsste, für all diejenigen, die in größter Not sind.

 

Vielleicht wäre es so weitergegangen, wenn die Flüchtlinge uns nicht zu einer Entscheidung gezwungen hätten. Im Sommer entdeckten sie eine neue Route, einen Shortcut über die Ägäis, weniger gefährlich, weniger tödlich als die Reise über das Mittelmeer. Die alte Ordnung war da nicht mehr aufrechtzuerhalten, es war übrigens eine sehr deutsche Ordnung und gerecht war sie nie. Wir Deutsche verlangen europäische Solidarität in diesen Tagen, aber solidarisch waren auch wir nicht: Kaum ein Land hatte sich so erfolgreich abgeschottet, mit Hilfe von eines Vertrags namens Dublin oder der Änderung des Grundgesetzes, genannt Asylkompromiss, vor nun immerhin 23 Jahren. Die damals gefundene Lösung beendete eine scharfe Auseinandersetzung - fortan waren wir von so genannten sicheren Drittstaaten umgeben. Aber tatsächlich war es eine Lösung zu Lasten Dritter. Das St.-Florians-Prinzip ist aus Sicht vieler unserer europäischen Nachbarn eine deutsche Erfindung.

 

So blieb vor allem Italien zuständig für die Flüchtlinge, die über das Mittelmeer kamen und Griechenland schließlich für diejenigen, die es nun über die Ägäis schafften. Ein Land, erschüttert von einer Wirtschaftskrise und, wir wir seit Jahren wissen und beklagen, unfähig eine effektive Steuerverwaltung oder ein Katasteramt aufzubauen, sollte den Ansturm meistern.

 

Den Ansturm der Wirklichkeit konnte dieses europäische Konstrukt jedenfalls nicht überstehen. Und wenn auch weniger starben, als auf dem Mittelmeer, gestorben wurde noch immer: So wie der dreijährige Aylan Kurdi, der am 2. September in der Ägais ertrank. Oder nur Tage zuvor die 71 Menschen, die in einem Kühllaster erstickten, den Österreichs Polizei auf einem Seitenstreifen der Autobahn entdeckte.

 

Es war im Angesicht dieser Bilder, dass die Kanzlerin am Abend des 5. September entschied, die Menschen vom Bahnhof in Budapest nach Deutschland ziehen zu lassen.

 

Gut, dass sie es getan hat.

 

Das Leben wird nach vorn gelebt, aber erst in der Rückschau verstanden. In der Rückschau war unser Verhalten bis zu dieser Entscheidung der Kanzlerin falsch, politisch und moralisch. Wir haben einen Bürgerkrieg vor unserer Haustür ignoriert, wir haben unsere Partner in der EU mit der Bewältigung allein gelassen. Während der so genannten UNO-Woche im vergangenen September in New York konnte sich der damalige Flüchtlingskommissar Antonio Guterrez nicht vor Einladungen retten. Die gleichen Politiker, die zuvor keine Zeit für ihn hatten, wollten ihn sehen. Auf die Frage, was sich geändert hatte, sagt Guterrez: Die Ankunft von Flüchtlingen in den reichen Staaten Europas.

 

Ein amerikanischer Kollege von mir nennt die Ereignisse des vergangenen Herbsts einen neuen Mauerfall, dieses Mal nicht zwischen Ost und West sondern zwischen Nord und Süd. Wenn man dieser Einschätzung folgen mag, würde ich sagen: Damals waren wir ebenfalls herausgefordert, vor allem aber waren wir die Gewinner der Geschichte. Heute werden wir von der Geschichte vor allem herausgefordert. Schon bald, wenn sich die Winterstürme gelegt haben, so vermute ich, werden wir es erleben. Die Zahlen werden wieder steigen, dabei sind sie noch immer hoch. Wenn 3.000 die griechischen Inseln erreichen, spricht die Regierung von einem guten Tag. Im Schnitt sind es 4.000.

 

Niemand weiß heute, in welche Höhe die Zahlen im Frühjahr schießen werden. Schließlich hat sich herumgesprochen, dass die alte deutsche Politik der Abschottung nicht mehr gilt. Reisen ist nun möglich. Insofern war das Wort der Kanzlerin ein wahrer Schabowski-Moment.

 

Das bringt mich zu dem, was wir aus dem abgelaufenen Jahr lernen können. Ich würde sage: Lernen müssen. Auf Sicht zu fahren, heißt heute weitsichtig zu sein, jedenfalls einen Teil der Probleme der Welt zu lösen, weil die Probleme sonst zu uns kommen. Manches wird erstaunlich einfach sein: Die offenen Rechnungen an das World Food Programm überweisen, die UNO mit ausreichenden Mitteln für die Bewältigung der größten Flüchtlingskrise seit Ende des Zweiten Weltkrieges auszustatten, neben freiem Handel auch für fairen Handel zu sorgen. Das war wir so gern humanitäre Hilfe nennen, ist tatsächlich purer Eigennutz. In diesem Herbst war ich mit der Münchner Sicherheitskonferenz in Teheran, wir diskutierten die Lage in der Region. Gut erinnere ich mich an den libanesischen Außenminister, der sagte: Was uns verletzt, wird auch euch verletzten. Was uns besorgt, wird euch besorgen. Instabilität, wo auch immer sie auftritt, kann unsere Stabilität gefährden.

 

Das weitsichtige Handeln allerdings ist - zugegeben - schwieriger geworden. Henry Kissinger hat zum Jahresende darauf hingewiesen, wir haben es mit einer historischen Gleichzeitigkeit von Krisen zu tun, oft ist die Politik nicht nur gefordert sondern beinah damit überfordert, die jeweils scheinbar Aktuellste von ihnen zu lösen. Kissinger nennt es eine neue Stufe der Komplexität, zudem verdränge die Vielzahl der heute zu jedem Zeitpunkt verfügbaren Fakten die Fähigkeit zur Analyse. Der gesamte politische Prozess werde unmittelbarer und emotionaler - und weniger auf Reflexion angelegt.  Auch für die politischen Führer bestünden heute deutlich mehr Anreize, auf die Stimmung des Augenblicks zu reagieren. In der Flüchtlingsfrage hat sich das lange beobachten lassen: Gibt es dramatische Bilder aus einem Land, wird ein Gipfel einberufen, milliardenschwere Versprechen für Soforthilfe werden eingesammelt und verkündet, aber dann erlahmt der Eifer. Bei der UNO haben sie ein Wort dafür: Donor Fatigue. Spendermüdigkeit.

 

Der britische Historiker Niall Ferguson, der eine vorzügliche Biographie über Kissinger geschrieben hat, hat sich mit diesem Problem befasst. Er nennt es die „Schwierigkeit der Mutmassung“, Politiker sollen handeln, Geld ausgeben, Ressourcen mobilisieren für etwas, was es ja noch gar nicht gibt. Sie sollen sich um Probleme kümmern, die es geben könnte. Er verweist auf einen zweiten Punkt: Viele Politiker wüssten - oder interessierten - sich heute nicht ausreichend für Geschichte. Kissinger jedenfalls rät Außenpolitikern heute: Studiert Geschichte. Nicht weil sie sich wiederholt. Aber weil man aus ihr lernen könne, wann Politik Erfolg hat - und woran sie scheitert. Kissingers Rat verstehe ich so: Politik muss den Mut und die Fähigkeit haben, einmal einen Schritt zurückzutreten, sich Zeit auszubedingen, einmal in Ruhe nachzudenken. Egal, wie laut der Erregungspegel auf Facebook, Twitter oder bei uns Journalisten gerade ist. In der Rückschau adeln wir das, wenn im vergangenen Jahr ein Großer wie Helmut Schmidt beerdigt wird. Wir bewundern es als Staatskunst.

 

Ich glaube die Situation im Nahen und Mittleren Osten lehrt uns viel darüber, wie wichtig dieser gedankliche Prozess inzwischen geworden ist. Wir Deutschen sind daran gar nicht so schlecht, jedenfalls zahlt die Bundesregierung in aller Regel ihre Rechnungen an die UNO und das World Food Programm pünktlich. Die Kanzlerin hat eine als der ersten Politikerinnen schon in ihrer Neujahrsansprache im vergangenen Jahr auf das Flüchtlingsproblem hingewiesen - nur hat das offenbar im Innenministerium und im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge niemand gesehen.

 

Aber ohne Fehler sind wir nicht: Zwei Beispiele will ich nennen: Lange haben die europäischen Länder, auch wir Deutschen, dabei zugeschaut, wie junge Menschen, die unter uns groß wurden, sich radikalen-islamistischen Gruppen und Terror-Milizen angeschlossen haben. Das Rational dahinter war ziemlich einfach: Wer nach Afghanistan, den Irak oder Syrien ausreist, würde keine Bedrohung mehr für die Menschen hier in Europa sein. Es ging, wie die Behörden sagten, um den „Schutz der eigenen Bevölkerung“. Erst langsam änderte sich diese Einstellung, harte Ausreiseverweigerung für diejenigen, die dort unten morden wollen, gibt es erst seit wenigen Jahren - und bis heute wird sie nicht überall entschlossen durchgesetzt.

 

Jetzt sind wir entsetzt über diejenigen, die sich einen Sprengstoffgürtel umschnallen und sich in Paris vor einem Fußballstadion, in dem die deutsche Nationalmannschaft spielt in die Luft sprengen. Ein neues Phänomen, heißt es. Aber das Phänomen ist gar nicht neu, allein über 20 aus Deutschland stammende Islamisten haben inzwischen nach Zählung der Behörden in Syrien und im Irak Selbstmordattentate begangen. An einigen dieser Orte an denen dies geschah, bin ich gewesen.

 

Nun sorgen wir uns darum, leider inzwischen zu Recht, ob mit den Flüchtlingen auch Terroristen zu uns nach Europa kommen. Aber wir sollten darüber nicht vergessen, dass Europa lange Terrorismus exportiert hat. Die Menschen im Irak und in Syrien fliehen auch vor Mördern, die aus Dinslaken, Wolfsburg oder München angereist sind.

 

Ein zweites Beispiel: Waffenexporte. Beginnend mit der ersten rot-grünen Koalition haben seither alle Bundesregierungen Entscheidungen getroffen, die unter Brandt, Schmidt und Kohl tabu waren. Der Nahe Osten kaufte deutsches Kriegsgerät, zu Zeiten der ersten Großen Koalition genehmigte der Bundessicherheitsrat den Export einer ganzen Waffenfabrik nach Saudi-Arabien - zur Produktion des Sturmgewehrs G-36. Dahinter steckte keine Exportförderung, sondern Strategie und nach dem was man weiß, stammte sie von der Kanzlerin selbst: Länder wie Saudi-Arabien, vermeintliche Garanten der Stabilität und Verbündete, sollten gestärkt werden. Sie hat das einmal so beschrieben: Wenn der Westen nicht selber eingreifen wolle oder könne, reiche es nicht aus an andere Länder ermunternde Worte zu richten. Sondern auch Waffen zu liefern. Die Kanzlerin war auch für den Export von Leopard-Panzern an das saudische Regime - als Gegengewicht gegen das iranische hegemoniale Streben am Golf.

 

Wohin diese Politik führt, hat sich im vergangenen Oktober gezeigt: Da gingen die ersten Kampfpanzer vom Typ Leopard an das Emirat Katar, Teil einer ganzen Panzerarmee, die mit Genehmigung der Bundesregierung verkauft worden war: Insgesamt 62 Kampfpanzer und 24 Panzerhaubitzen. Qatar ist - an der Seite Saudi-Arabiens - in jenen blutigen Bürgerkrieg verwickelt, der seit nun schon über elf Jahren im Yemen tobt. Inzwischen ist es auch ein Stellvertreterkrieg zwischen Saudi-Arabien und Iran. Der Bundesregierung war der Export, um das Mindeste zu sagen, unangenehm. So bemüht sie sich um eine Zusicherung der Herrscher in Qatar, dass die deutschen Panzer nicht im Bürgerkrieg im Yemen eingesetzt werden. Aber wohin werden diese Panzer in der Zukunft noch rollen? Wer wird vor der der Mündung einer deutschen G-36 stehen?

 

Wir Journalisten gelten nicht gerade als Optimisten, ich habe fast 25 Jahre für ein ganz wunderbares Blatt gearbeitet, zu deren Kern-Kompetenzen aber auch nicht gerade die Verbreitung guter Laune gehört. Aber wahr ist, dass sich mit weitsichtigem, geduldigen Handeln, übrigens manchmal, auch das hat das Jahr 2015 bewiesen, auch solche Konflikte lösen, die zunächst doch unlösbar scheinen. 2015, man mag es kaum glauben, war auch ein Jahr der guten Nachrichten. In Havanna wurde die Botschaft der USA neu eröffnet, Schlusspunkt eines Konfliktes, der die Welt meiner Eltern an den Rand eines Atomkrieges brachte. Der endgültige Durchbruch der Atomverhandlungen mit dem Iran, dabei schien dies lange der nächste unvermeidbare Krieg. Und schließlich Paris, Einstieg in ein Klimaabkommen, dass diesen Namen hoffentlich verdient. Warum? Vor allem weil ein amerikanischer Präsident kurz vor seinem Abtritt von der Weltbühne nicht abließ und die chinesischen Machthaber nur aus dem Fenster schauen mussten, wo ihre eigenen Bürger um Atem ringen um zu sehen, dass man so nicht weitermachen kann. Wobei man an schlechten Tagen beim Blick aus dem Fenster in Peking gar nichts erkennen kann.

 

Nun haben wir es mit wahren Ballung solcher scheinbar kaum zu lösenden Problemen zu tun, der Umgang mit ihnen ist so schwer, weil bei der Suche nach der richtigen Strategie Argument und Gegenargument zugleich richtig sein können. Frank-Walter Steinmeier hat es auf dem gerade stattgefunden SPD-Parteitag so beschrieben: Häufiger ist die Wahl begrenzt auf Antworten, die alle von Zweifeln begleitet sind, entweder was die Wahl der Mittel angeht oder was die Wahl der Bündnispartner angeht.

 

Oft sind es die Fragen von Krieg und Frieden. Damit tun wir uns besonders schwer. Wäre es anders, müsste man sich Sorgen machen. Willy Brandt hat den Krieg die höchste Form der Unvernunft genannt. Und doch hat Deutschland die erste Entscheidung sich nach dem Zweiten Weltkrieg mit militärischen Mitteln an einer Auseinandersetzung zu beteiligen, bereits vor vielen Jahren getroffen. Es ging im Jahr 1993 übrigens darum eine Flugverbotszone einzurichten - um die Bosnier vor einem Völkermord durch die Serben zu schützen. Viele weitere Jas sind hinzugekommen. Aber auch manches Nein. Wir alle hier können uns schnell darauf einigen, dass der Krieg gegen den Irak falsch war. Nur dadurch ist der so genannte Islamische Staat erst entstanden, eine bisher unbekannte Form terroristischer Organisation, in der sich religiöse Fanatiker und ausgebildete hochrangige Militär und Geheimdienstler des Regimes von Saddam Hussein zusammengefunden haben. Nicht ganz so einfach ist es schon im Fall von Libyen, der nächste failed state vor unserer Haustür, den der IS hofft übernehmen zu können. Hätte die Weltgemeinschaft deshalb einem Massaker an der Opposition zuschauen sollen?  Es war die SPD-Linke Heidemarie Wieczorek-Zeul, die diese Entscheidung eine Schande nennt - es gäbe es im Völkerrecht doch auch die Schutzverantwortung der Völker. Libyen lehrt jedenfalls ebenso wie der Irak: Der vermeintliche militärische Sieg ist nur der Beginn, aber nicht das Ende.

 

Und schließlich Syrien: Der frühere CIA-Chef David Petraeus nennt es ein „geopolitisches Tschernobyl“. Wahr ist, dass wir keinen weiteren Krieg im Nahen Osten brauchten und deshalb weder die Amerikaner noch die Europäer eingreifen wollten, nicht einmal als Basher al-Assad bewies, dass er seines Vaters Sohn ist. Ein Schlächter, dessen Massakern mit Giftgas und Fassbomben wir zugeschaut haben.  Der IS ist erst in diesem im Chaos versinkenden Syrien zu der Macht und Bedrohung wurde, die er heute ist. Machen wir es uns nicht zu einfach: Nicht jeder, der für einen Militäreinsatz votiert, oder argumentiert, ist ein Kriegstreiber. Nicht jeder der eine Überbetonung des Militärischen ablehnt, ein Wiedergänger Chamberlains.

 

Lassen Sie mich einen Moment beim IS bleiben und bei der Bedrohung durch den Terrorismus. Sie scheint nach Hannover München und Istanbul ja ganz nah. Oft lese ich: Die Gefahr durch den Terrorismus ist zurück. Dabei war sie nie weg. Sie begleitet uns, spätestens seit dem 11. September. Seither wurde die Bedrohung mal unterschätzt - oder die Auseinandersetzung, etwa nach dem Tod Bin Ladens bereits für so gut wie beendet erklärt. So war es auch im Irak: Als die Amerikaner 2009 abzogen reduzierten sie das Kopfgeld auf den Anführer der Vorläufer-Organisation des IS von zuvor 5 Millionen auf 100.000 Dollar. Die Angelegenheit schien erledigt.

 

Ebenso wahr, dass die Risiken durch den Terrorismus überschätzt wurden - etwa der angeblich drohende Anschlag mit Massenvernichtungswaffen, der scheinbar nur noch eine Frage der Zeit war. Terrorismus lebt vom Grauen, von der Angst, die in unseren Köpfen entsteht. Auch Krieg erzeugt Angst - doch für Terroristen ist er das eigentliche Ziel. Wir fürchten uns vor dieser Form von Terrorismus, leider zu Recht, er wird versuchen uns zu treffen. Der IS und andere solche Gruppen wählen die gemeinste Form, denn ihnen ist jeder als Opfer Recht. Er hat ein gutes Gespür für die Weichteile unserer Gesellschaft. Er kennt keine Gnade. Aber die eigentlichen Opfer des Terrorismus sind nicht wir, es sind die Menschen in den muslimischen Ländern. Nach neuesten Zählungen machten Menschen aus sogenannten reichen Ländern zwischen 2000 und 2014 2,6 Prozent der Opfer aus. Im sogenannten Islamischen Krisenbogen sind zwischen 2004 und 2014 über 3.600 Selbstmordattentate mit mehr als 33.000 Toten und über 80.000 Verwundeten dokumentiert. Tatsächlich fliehen viele der Menschen, die nun zu uns kommen, vor genau dieser Barbarei.

 

Leider ist es so, dass der Nahe und Mittlere Osten heute für die Terroristen eine wahre Wohlfühl-Landschaft geworden ist, sie brauchen den Konflikt wie der Parasit das Wirtstier. So günstig waren die Bedingungen leider noch nie. Zu viele der dortigen Regime haben ihren Menschen nichts zu bieten, keine Bildung, keine Arbeit, keinen freien Wahlen. Manchmal nicht einmal das Recht für Frauen Auto zu fahren. Die verheerende Politik des saudischen Königshauses wird in diesen Tagen für alle auf besondere Art sichtbar, dabei destabilisiert dieses Land schon seit langer Zeit die Region: Die Unterstützung des PLO-Terrorismus, der Export einer radikalen Interpretation des Islam, die Finanzierung von al Qaida oder von syrischen Warlords. Die Liste ist lang. Seit der Westen den Atomdeal mit dem Iran geschlossen hat, lebt das saudische Königshaus in Angst. Der Konflikt geht - da sind wir wieder bei den langen Linien - auf das Jahr 1979 zurück: Der Schah wurde gestürzt, die Mullahs kamen an die Macht. Und im gleichen Jahr stürmten religiöse Extremisten die Moschee im Heiligen Mekka. Die Saudis fürchteten um ihre Macht - und erneuerten ihre Vereinbarung mit den konservativen Geistlichen. Lasst uns die Macht, wir überlassen euch die radikale Ausdeutung der Religion.

 

Die Saudis haben viel dafür getan, dass die Ideologie des sogenannten Islamisten Staates und anderer Terrormilizen - heute solchen Zulauf hat. Sie haben diesen Wahnsinn mit Milliarden finanziert. Auch deshalb halten die Terroristen heute mehr Territorium und destabilisieren mehr Staaten als jemals zuvor. Schlägt man sie an einer Stelle, tauchen sie an einer anderen wieder auf. Die radikale Ideologie hat bisher unbekannten Zulauf, auch, ich habe davon erzählt, von Menschen, die unter uns groß werden. Der IS hat im Herzen der arabischen Welt, nahe den Heiligen Stätten Mekka, Medina und Jerusalem ein Kalifat errichtet - und dabei die bei den Arabern verhasste Sykes-Picot-Linie, mit der Großbritannien und Frankreich den Nahen Osten unter sich aufteilten, verschwinden lassen. Lawrence von Arabien, der ihnen allen ein Begriff ist, opponierte übrigens damals gegen seine eigene Regierung.

 

Nichts von dem heutigen Chaos wird schnell verschwinden, der Staat des IS, angeführt von einem Doktor der Theologie der Universität Bagdad, wird noch einfacher zu besiegen sein, als seine Ideologie. Nach al Qaida und dem IS wird es andere Gruppen geben, deren Namen wir heute noch gar nicht kennen. Die „Religiöse Welle“, wie Terrorismus-Forscher sie nennen, wird, so fürchte ich, noch lange rollen.

 

Ihr erklärtes Ziel ist es übrigens auch das zu beseitigen, was sie die„Grauzone“ nennen, sie wollen Misstrauen säen zwischen der Mehrheitsgesellschaft in Europa und den muslimischen Minderheiten. Das wollte schon al Qaida: Durch Anschläge im Westen sollte sich der Hass auf Muslime steigern, aus- und abgegrenzte Einwanderer sollten so ansprechbar werden für die radikale Ideologie der Islamisten werden. Terrorismus setzt nicht nur auf Reaktion, er hofft auf Überreaktion. Donald Trump ist ein Politiker, wie sie ihn sich wünschen. In der idealen Welt der Islamisten misstrauen wir alle hier künftig auch noch unserem türkischen Gemüsehändler.

 

Wenn es nicht mehr Syrien oder der Irak sind, ist es Morgen womöglich der Sinai, Libyen oder Mali. Ohne dauerhafte politische Stabilisierung der Region wird der Terrorismus nicht oder nur schwer einzudämmen sein. Um den UNO-Generalsekretär Ban-Ki-Moon zu zitieren: Raketen mögen einen Terroristen töten. Aber nur gute Politik beseitigt Terrorismus.

 

Gute Politik wird lange dauern. Und das ist noch die optimistische Voraussage. Der Schlüssel für Veränderung liegt in der Region selbst. Erkenntnis oder Erschöpfung, manchmal beides zusammen, sind die Faktoren die Konflikte zu einem Ende bringen.  Im Nahen und Mittleren Osten wäre eine klare Absage der sunnitischen und schiitischen Religionsgelehrten gegen jede Form von Radikalismus und Gewalt ein wichtiger erster Schitt. So lange sich nichts zum Besseren wendet, wird die Flucht weitergehen. Es ist richtig zu versuchen, die Fluchtursachen zu reduzieren. Aber auch da bin ich an diesem Abend hier nicht sonderlich optimistisch.

 

So bündeln sich hier unsere Herausforderungen, die Flüchtlinge, der Terrorismus, die unsichere Lage im Nahen Osten. Sind wir deshalb, wie manche sagen, im Krieg, im Krieg gegen den Terrorismus? Ich glaube Nein, Krieg gegen Kriminelle zu führen ist unsinnig, diesen Gefallen sollte man ihnen nicht tun. Gegen Mörder führt man keinen Krieg. Krieg kennt eigene Regeln, er kennt nur das Kriegsrecht und den mentalen Ausnahmezustand - all dies waren Gründe, für Guantanamo und CIA-Geheimgefängnissse. In der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus aber verteidigt der Staat zwei Dinge. Die körperliche Unversehrtheit seiner Bürger und ebenso - seine  Werte. Reduzieren wir also die Komplexität der Auseinandersetzung nicht auf das Militärische, denn die diplomatischen und sozialen Herausforderungen sind mindestens ebenso bedeutsam. Aber ganz ohne militärischen Einsatz - etwa gegen den IS - wird es auch nicht gehen.

 

Wir sind also nun in einer Welt in der Richtig und Falsch nicht immer und schon gar nicht auf den ersten Blick zu erkennen sind. Wie gehen wir damit um, mit unserer eigenen Unsicherheit? Hier tut uns die Heftigkeit in unserer Debatte bisweilen nicht gut, wenn mit der Ratlosigkeit der Geräuschpegel steigt. Manche der Politiker in Berlin, die gerade erst im Bundestag für den Syrien-Einsatz stimmten, haben allein die Debatte über die Notwendigkeit noch vor wenigen Jahren als das unverantwortliche Geschwätz von Kaffeehaus-Intellektuellen abgetan. Der Historiker Andreas Rödder hat einmal auf eine unter uns Deutschen lange verbreitete Kultur der Unbedingtheit hingewiesen - und ein wunderbares Beispiel hierfür gefunden: Eines Tages unternahmen der junge Wilhelm Furtwängler und sein Lehrer, der Archäologe Ludwig Curtius eine Wanderung in den Bergen, als Curtius sagte, er schätze die Frömmigkeit von Bachs H-Moll-Messe höher als die von Beethovens Missa solemnis. Wenn „Du so denkst“, entgegnete Furtwängler, „können wir nicht weiter zusammen wandern“.

 

Solche, er möge mir vergeben, Furtwänglerei, findet sich auch hier in Bayern, in Berlin sowieso. Die Beschleunigung unserer Welt hat viele gute Seiten. Die Beschleunigung des Urteils gehört nicht dazu.

 

Wer von ihnen nun glaubt, ich könnte damit auch uns Journalisten meinen, irrt.

 

Ich meine vor allem uns Journalisten.

 

Ich bin bei unserer Verantwortung und unseren Fehlern und damit endlich in einem Bereich angelangt, für den ich tatsächlich ein Experte bin. Denn alle Fehler die man machen kann, habe ich mindestens einmal auch schon selbst gemacht. Für den Ton der Debatten tragen wir Journalisten besondere Verantwortung, auch für die Hastigkeit, in der sie inzwischen so häufig ausgetragen werden. Zuspitzung, wie es so schön in meinem Gewerbe heißt, braucht es in diesen Zeiten viel weniger, als Zurückhaltung. Liveticker und Sondersendungen nur dann, wenn es auch wirklich etwas zu berichten gibt. Es gibt eine Versuchung für uns Journalisten: Volker Zastrow hat es an diesem Sonntag in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ so beschrieben: Ist ein Ereignis schockierend ist es schwer, sich Versuchung zu vorschnellen Urteilen zu entziehen.

 

Einen leisen Klugen zu zitieren, ist sinnvoller als einen, der nur Laut ist. Ich jedenfalls empfinde es heute oft schon als eine Herausforderung, die richtige Frage zu stellen. Die Antwort kenne ich oftmals nicht. Ich glaube auch, dass der Satz „Ich weiß es nicht“ heute eine Tugend ist. Wir können Dinge erst dann beschreiben, wenn wir sie gründlich recherchiert und verstanden haben. Es ist nichts falsch daran, eine Geschichte als Erster zu haben, es ist sogar die zweitwichtigste Regel meines schönen Berufes. Die wichtigste aber lautet: Die Geschichte muss stimmen. Unterschlagen werden darf Nichts, der Verdacht besteht in diesen Tagen rund um die Kölner Ereignisse. Manche haben sehr früh und gut berichtet - die Kölner Blätter etwa, noch vor der Polizei. Andere erst später, oder zunächst gar nicht, wofür sie sich entschuldigt haben. Wäre dies geschehen, weil man sich der Faktenlage noch nicht sicher schien - wäre es in Ordnung. Wäre es aus politischer Rücksichtnahme geschehen, wäre es ein gravierender handwerklicher Fehler.

 

Die Presse gibt es sowieso nicht. An jedem Tag höre, lese, sehe ich Miserables und Herausragendes. An der Wand der „Washington Post“ hängt bis heute ein Credo des legendären Chefredakteurs Ben Bradlee: Die Wahrheit, egal, wie schrecklich sie sein mag, ist nie so gefährlich wie eine Lüge.

 

Der maßvolle Ton ist der Zwilling des kühlen Kopfs und den werden wir brauchen. Die Kanzlerin fragt Journalisten gern, wie Deutschlands Außenpolitik denn aussehen müsste, wenn es die Amerikaner gar nicht gäbe. Nun, einstweilen sind die Zeiten, in denen die Amerikaner die Probleme der Welt mal lösen (oder vergrößern) vorbei. Wenn ich einigen der republikanischen Präsidentschaftsbewerber zuhöre, ich gebe es zu, hoffe ich sogar, dass es so bleibt. Vermutlich ist dies hier eine überparteiliche Veranstaltung, dann entschuldigte ich mich schon einmal für meine nächste Bemerkung: Viel Glück, Hillary.

 

Aber auch mit einer Präsidentin Clinton werden wir unsere Probleme in einem ganz schon selbst lösen müssen, jedenfalls in einem anderen ganz anderen Masse, als wir es gewohnt waren. Leider waren wir darin nie wirklich gut.

 

In den Weihnachtstagen forderte Wolfgang Schäuble eine gemeinsame europäische Armee - eine Vorstellung die schon die europäischen Gründerväter beschäftigte. Bis die Französische Nationalversammlung 1954 die Idee ablehnte. Danach kam es zur ersten r„elance europeene“ - einem Neustart. Davon haben wir inzwischen einige erlebt und damit viel erreicht, freien Handel, freies Reisen, die Anerkennung von Bildungsabschlüssen und eine etwas wackelige gemeinsame Währung. Aber in den großen außenpolitischen Fragen fallen wir auseinander, so war es schon während des Jugoslawien-Krieges, so war es bei Irak, Libyen und Syrien. In diesen Tagen ist viel von der Rückkehr des Nationalstaats die Rede. Dabei war er nie weg, den Kern nationalstaatlicher Souveränität haben die Staaten Europas nie aufgeben wollen. Unsere eigene Geschichte der Gewalt haben wir hinter uns gelassen. Nun müssen wir einen Konsens umgehen, wie wir der Gewalt in unserer Nachbarschaft umgehen. Entscheidend für die Zukunft Europas wird nach meiner Überzeugung nicht allein sein, die Dinge im Inneren zu ordnen. Sondern ob wir gemeinsam die Dinge in der Welt zum Besseren verändern können. Oder wenigsten einig sind, wie man drohende Katastrophen abwendet. Wenn wir wollen, können wir durchaus mit einer Stimme sprechen: In Fragen des Handels etwas. Aber eben nicht in Fragen des Handels. Ich wünsche mir eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik, die sich diesen Namen verdient. In der Welt wird nicht befürchtet, dass Europa zu stark wird. Sondern, dass es zu schwach wird. Europa, so heißt es, wächst an seinen Krisen. In Berlin treffe ich viele Politiker, die sich nicht sicher sind, ob diese Maxime noch stimmt. Ich hoffe es jedenfalls sehr.

 

Eine letzte Anmerkung. Eingeladen bin ich hier auch, so vermute ich, weil dem Kind eines Einwanderers eine zumindest rudimentäre Expertise in diesem Bereich zugetraut wird. Ohne die Entscheidung meines Vaters Italien zu verlassen, wäre ich heute nicht ihr Gast. Dieser Kontinent Europa ist reich an Erfahrungen: Erst waren es Millionen Auswanderer, die die Neue Welt besiedelten und zu der ihren machten. Dann erst begann die Zuwanderung, oft zwischen den europäischen Staaten selbst. Historisch lässt sich sagen: Die Furcht vor Einwanderung ist so alt wie die Einwanderung selbst. Und fast immer waren die Befürchtungen übertrieben.

 

Die Deutschen, die es nach Amerika zog, waren übrigens zwischendurch hartnäckige Integrationsverweigerer. Sie forderten, dass Gesetze bitte nicht nur in Englisch, sondern auch in Deutsch abgefasst werden sollten. Benjamin Franklin schrieb über sie sie seien „im Allgemeinen von der ignorantesten und dümmsten Sorte“ ihrer Nation. Über „kurz oder lang“ würden sie so zahlreich sein, dass „sie uns germanisieren, statt dass wir sie anglifizieren“. Die so genannten Revolutionsflüchtlinge von 1848 wollten sogar den amerikanischen Staat umkrempeln.

 

Den Julia-Klöckner-Test hätten sie nicht bestanden.

 

Zu unserem Glück gehört, so darf man hoffen, dass wir alle Fehler schon einmal gemacht haben. Wir waren kaltherzig und ablehnend, ebenso wie übertrieben verständig gegenüber denjenigen, die die Regeln unserer Gesellschaft nicht akzeptieren wollen. Günther Beckstein hat es einmal auf den Punkt gebracht: „Das linke Lager hat lange mit Multikulti eine wunderschönen Traum von der heilen Welt gepflegt und dabei die Entstehung von Parallel-Gesellschaften ignoriert. Und die Union hat sich unter dem Schlagwort Deutschland sei kein Einwanderungsland nicht genug um diejenigen Migranten gekümmert, die bereits unter uns lebten.“

 

Die Bilder von zwei Bahnhöfen stehen dafür: München, für das Willkommen und die Dankbarkeit der Menschen, die wir aufnehmen. Köln für eine dunkle Seite. Die Vorkommnisse müssen noch vollständig aufgeklärt werden, aber sie erinnern uns daran, dass für viele derjenigen die uns zu kommen, ein anderes Gesellschafts- und Frauenbild gilt. Strenge Sexualmoral, eine strenge Hierachisierung. Taharrush gamea - gemeinsam begangene sexuelle Belästigung ist in vielen arabischen Ländern heute weit verbreitet, vor allem in Ägypten, wo das Problem auch aus Angst vor den Auswirkungen auf den Tourismus lange kleingeredet wurde. Der Tahrir-Platz, für uns ein Symbol der Hoffnung, ist für Frauen schon lange ein lebensgefährlicher Ort.

 

Hier gibt es - und darf es für so etwas Null Toleranz geben - vor allem von der Justiz. Zu unseren Fehlern in der Vergangenheit - und mancherorts auch in der Gegenwart - zählt eine falsche Toleranz gegenüber Parallel-Welten, in denen Kriminalität und ein mittelalterliches Frauenbild verbreitet ist. Auch Abschiebung kann und muss ein Mittel sein, wobei es hier zu allererst nicht an Gesetzen mangelt. Sondern wie zu oft am Vollzug. Ich glaube auch nicht, dass wer immer zu uns kommt, oder gekommen ist, nicht weiß, dass diese Formen des Angriffs und der Demütigung, hier unverzeihlich ist: Schließlich ist auch ihr Idol eine Frau, die in diesem Land sogar Kanzlerin ist. Es geht hier übrigens nicht nur um Silvester. Es geht vor allem auch um all die muslimischen Mädchen und Frauen, die hier in Deutschland unter diesem Welt- und Frauenbild zu leiden haben.

 

Die Aufklärung hat aber auch leider nicht alle Deutschen erreicht, wir haben ja nicht nur eine Willkommens-Kultur, sondern auch eine Kultur der Gewalttätigkeit. Beinah jede Nacht finden Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte statt und es ist ein kleines Wunder, dass noch niemand erschossen, erstickt, verbrannt wurde. So etwas hatten wir schon einmal in den Neunziger-Jahren, als die Zahlen der Zuwanderung hoch waren. Es war eine Schande. Sie darf sich nicht wiederholen. Mir bereitet all dies die größten Sorgen: Die Verrohung der Sprache im Internet, wo Blitzhass heute weiter verbreitet ist als in diesem Winter das Blitzeis. Wo das Argument nicht hilft, bleibt nur eine Alternative: Abschreckung - durch harte Strafen.

 

Wir können nicht bestimmen, wie viele noch zu uns kommen, sagt die Kanzlerin und damit wird sie wohl Recht behalten. Wie also weiter? Ich würde mir wünschen, dass wir möglichst viele von diejenigen aufnehmen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen müssen. So wie ich mir wünsche, dass sie in ihre Länder zurückkehren, wenn ihnen keine Not mehr droht. Auch um am dortigen Wiederaufbau teilzunehmen. Das ist übrigens auch der Kerngedanke der Genfer Konvention: Selbst die so genannten „primären Formen“ des Flüchtlingsschutzes gewähren zunächst nur ein Aufenthaltsrecht von drei Jahren. Verlängert wird, wenn der Fluchtgrund andauert. Sonst nicht. So war es schon einmal nach dem Bosnien-Krieg. Nicht alle, die zuvor bei uns Schutz gefunden hatten, gingen zurück. Aber sehr viele von ihnen taten es. Auf Rückkehr zu setzen - wie es der UNHCR tut - und sie notfalls auch durchzusetzen wird notwendig sein, denn die Welt wird kein ruhiger Ort. Deutschland muss ein Ort der Zuflucht bleiben können. Wer auf unbestimmte Zeit bleibtk muss seine Familie nachholen dürfen. Wie sonst auch soll Integration gelingen?

 

Aufgrund unserer Geschichte sollten wir großzügiger sein, als andere. Übrigens auch, weil die wirtschaftliche Lage es zulässt. Wäre ich ein Politiker, würden meine Kollegen mich an dieser Stelle fragen: Sind Sie für eine Obergrenze? Und wie hoch sollte sie sein? Ich würde mich, wie die Kanzlerin es tut, vor einer Antwort drücken. Weil ich keine Antwort weiß. Sicher scheint mir, dass es eine geben wird, schon in diesem Jahr. Sie wird aber weder im Kanzleramt noch auf Parteitagen bestimmt werden, nicht einmal in der bayerischen Staatskanzlei. Sondern von der Wirklichkeit. Davon wie es weitergeht, mit unserer unruhigen Welt. Wie viele noch an unsere Tür klopfen werden. Ob darunter auch solche aus einem Land, einem Ort, sind, von dem wir heute noch gar nichts wissen, die vor einem Konflikt fliehen, den wir heute noch gar nicht vorausahnen. Ob die Strategie Fluchtursachen zu bekämpfen, erste Erfolge zeigen wird. Ob wir überhaupt eine Lösung finden könnten, unsere Grenzen dicht oder dichter zu machen ohne zugleich unsere Werte und unser Recht aufzugeben. Ob wir allein bleiben mit unserer Politik. Ob wir unser Versprechen einlösen und Kontingente schaffen. Davon wie gut die Integration derjenigen gelingt, die schon bei uns sind. Ob wir vor allem ermutigende Momente erleben oder ob sich Ereignisse wie Köln wiederholen. Ob wir Zuwanderung vor allem als Bereicherung oder Belastung empfinden werden. Denn Zuwanderung bedeutet immer beides - wie schon Johannes Rau bemerkte.

 

Zur humanitären Verpflichtung kommt aber auch der Eigennutz, an dem nichts falsch ist: Schaffen wir also auch und endlich ein Zuwanderungsrecht, dass es denjenigen erlaubt zu kommen oder dauerhaft zu bleiben, die wir benötigen. In Amerika gründeten Einwanderer zwischen 1995 und 2005 mehr als die Hälfte aller Start-Ups im Silicon Valley, 21 Prozent der am schnellsten wachsenden amerikanischen Firmen werden von CEOs geführt, die nicht in den USA geboren wurden. Manchmal reicht es noch eine Generation weiter zurück: 1952 wanderte aus dem dem syrischen Homs ein Mann namens Abdulfattah Jandali in die USA aus. Sein Sohn hieß Steve Jobs.

 

Viele, fast alle in Europa folgen uns jedenfalls in unseren humanitären Überzeugungen nicht. Das ist bedauerlich. Vor allem, weil es längst nicht nur um die angeblich so störrischen Osteuropäer geht: Zwischen Dänemark und Schweden gibt es kein freies Reisen mehr, ein Recht das übrigens schon Jahrzehnte vor dem Schengen-Abkommen garantiert wurde. Die europäische Verteilungsstrategie ist ein Desaster, rund 300 der versprochenen 160.000 sind es bisher gerade einmal. Am Anfang meiner Rede waren wir in Genf - bei der Flüchtlingskonvention. Dänemark hat sie damals als erstes Land unterzeichnet. Nun debattiert die dortige Regierung, ob sie nicht verändert werden müsse.

 

Das alles sieht nicht gut aus. Aber es hilft, sich daran zu erinnern, dass wir Deutsche selbst auch erst seit ziemlich kurzer Zeit die Türen geöffnet haben, lange haben auch wie es anders gesehen. Nach der Wiedervereinigung weigerten sich viele der neuen Länder Flüchtlinge aufzunehmen, die Bevölkerung sei daran nicht gewöhnt. Das klingt vertraut in diesen Tagen.

 

Und trotzdem: Wir werden bei allen Differenzen, Mühen, Ungerechtigkeiten und auch Zumutungen Europa schon zusammenhalten müssen. Ohne dass es dabei ein deutsches Europa wird. Wir vergessen manchmal - aus guten Gründen - unsere Geschichte. Unsere Nachbarn tun es nicht: Jeder europäische Diplomat in Berlin weiß, dass an dem Ort wo heute deutsche Außenpolitik gemacht wird, einst die Nazis ihr Gold lagerten und Erich Honecker über Mauer und Schießbefehl wachte. Unser Wiederaufstieg ist beispiellos. Noch einmal Rödder: Nach zwei verlorenen Weltkriegen, unauslöschbarer Schuld, dem Verlust eines Drittels des Territoriums, der Vergemeinschaftung der Schwerindustrie und der Währung, einer sozialistischen Diktatur und den Folgelasten einer Wiedervereinigung heißt die Bilanz: Deutschland ist die bei weitem stärkste Macht in Europa. Heute können wir stolz sein und uns einen milden Patriotismus leisten: Nicht wegen unserer Geschichte. Sondern bei allen Fehlern, die wir machen, wie wir uns darum bemühen, mit ihr klarzukommen.

 

Vielleicht deshalb hat die Kanzlerin diesen Satz gesagt - weil wir Deutschen besser als andere wissen, dass sogar aus Schutt und Schuld etwas Neues, Großes entstehen kann. Wir schaffen das  - ist ja eine leicht abgewandelte Form des amerikanischen „Yes we Can“. Wir haben uns den Satz geklaut.

 

Es ist ein ebenso mutiger wie schwieriger Satz. Denn was dieses DAS sein wird, wissen wir noch nicht. Aber Optimismus ist bekanntlich eine besondere Form des Muts. Optimismus gehörte nicht unbedingt zu den Ressourcen die dieses Land bisher im Übermaß besaß.

 

Nun steht dieser Satz im Buch der Deutschen. Er gehört uns nun allen, auch denjenigen, die ihn nicht gesagt haben. Oder die ihn nicht gesagt hätten. Er ist unser aller Verpflichtung.

 

Ich wünsche uns ein ein tatkräftiges Jahr.

 

Möge es anders enden, als es begonnen hat.

 

Georg Mascolo

 

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