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„Tagesspiegel“-Chef Christian Tretbar: Kampfansage an die „Süddeutsche Zeitung“

„Tagesspiegel“-Chef Christian Tretbar: Kampfansage an die „Süddeutsche Zeitung“ Seit 1. März „Tagesspiegel“-Chefredakteur: Christian Tretbar

Der „Tagesspiegel“ hat im Internet stark an Reichweite zugelegt und zu den großen überregionalen Konkurrenten aufgeschlossen. Der neue Chefredakteur Christian Tretbar sagt im „kress pro“-Interview, wie das – auch im Doppelpass mit Print – gelungen ist und wie der „Tagesspiegel“ bis zu 150 Digitalabos pro Tag verkauft.

Herr Tretbar, der „Tagesspiegel“ hat seine Online-Reichweite gemessen an der Zahl der Visits binnen eines Jahres mehr als verdoppelt. Sind Sie und Ihre Kollegen Krisengewinnler?

Christian Tretbar: Wie andere Medien auch hat der „Tagesspiegel“ von dem hohen Informationsbedürfnis der Menschen in der Coronakrise profitiert. Das hat sich in einer großen Erhöhung unserer Online-Reichweite niedergeschlagen. Die positive Entwicklung hat bei uns aber schon durch kontinuierliche Optimierungen vor Corona eingesetzt und sich nach dem ersten Peak weiter fortgesetzt. Unsere strategischen Überlegungen scheinen also gefruchtet zu haben.

 

Welche Überlegungen waren das?

Wir waren in gewisser Weise auf das wegen Corona gesteigerte Informationsbedürfnis vorbereitet, weil wir schon 2019 die Strukturen im Newsroom verändert und von Print abgekoppelt hatten. Seitdem arbeiten wir nach einem Grundsatz, den wir bewusst nicht etwa Online first oder Digital first, sondern "Story first" genannt haben. Wir entscheiden für jede Geschichte, wie schnell, auf welchem Kanal und in welcher Form wir sie veröffentlichen wollen. Unser Digital-Team arbeitet parallel an Faktoren, welche die qualitative Reichweite positiv beeinflussen.

 

Aber ein solcher Umgang mit einer Geschichte oder einem Thema sollte in einer Redaktion doch selbstverständlich sein.

Beim „Tagesspiegel“ hatten wir nie eine separate Onlineredaktion, sondern haben immer integriert gearbeitet. Das hatte den Vorteil, dass es keine Grabenkämpfe zwischen Print und Online gab und wir Themen nicht doppelt besetzen mussten. Das Problem dabei war aber, dass Print die Oberhand hatte. Durch unser neues Storyfirst-Prinzip haben wir dieses Verhältnis nicht einfach umgekehrt, sondern entscheiden jetzt in jedem Einzelfall, wann und wie wir eine Geschichte auf den einzelnen Kanälen ausspielen. Zu diesen Kanälen gehören nicht nur Print und unsere Website, sondern auch soziale Netzwerke und Aggregatoren wie Apple News oder Google Discover. Seit der Einführung unseres Bezahlangebots Tagesspiegel Plus im Juli 2020 fragen wir uns auch immer, ob eine Geschichte hinter oder vor die Paywall gehört. Für eine Arbeitsweise, bei der der Inhalt einer Geschichte im Mittelpunkt steht, ist eine Redaktion viel leichter zu gewinnen, als wenn man sie nur mit einem Schlagwort wie Digital first konfrontiert.

 

Mit welchen journalistischen Online-Angeboten messen Sie sich eigentlich: mit nationalen wie süddeutsche.de oder mit denen von „Berliner Zeitung“ und „Berliner Morgenpost“?

Das ist der größte Wandel der vergangenen drei Jahre: Wir messen uns ganz klar mit der „Süddeutschen“, mit unserem Schwestertitel, der"„Zeit“, und auch die „FAZ“ haben wir im Blick. Was die Reichweite angeht, sind wir unmittelbare Konkurrenten. Wir wollen relevant als Leitmedium aus der Hauptstadt und nicht nur für die Hauptstadt sein. 80 Prozent unserer Reichweite ist überregional, diese Nutzer kommen also nicht aus Berlin und Brandenburg. Und 30 Prozent unserer Digitalabonnenten sind überregional. Wir haben auch unsere Homepage entsprechend sortiert: Wir setzen auf relevante überregionale Inhalte und spielen dabei die Stärke aus, dass wir allein aufgrund unseres Standortvorteils näher an der Politik sind. Und die Berlin-Themen, die wir ebenfalls stark auf der Homepage spielen, sind Großstadtthemen wie Mieten, Mobilität oder Verkehr, die eben auch für andere Städte relevant sind.

 

Ihre Reichweitenzahlen wirken auf den ersten Blick sehr beeindruckend. Aber nur eine kleine Minderheit der vielen Nutzer dürfte Ihre Angebote wirklich regelmäßig lesen und als Abonnent infrage kommen.

Plus-Abos stehen bei uns strategisch im Zentrum, und um sie zu gewinnen, brauchen wir eine hohe Reichweite, die wir dann in Abos konvertieren wollen. Wir gliedern dabei in vier Gruppen: Nicht-Markennutzer, Markennutzer, Loyalisten und Abonnenten. Nicht-Markennutzer sind Leute, die zufällig bei uns landen. In allen anderen Gruppen kommen die Leser gezielt zu uns, zum Beispiel direkt über die Home oder einen unserer Newsletter. Wer mehr als zehnmal pro Monat auf einem dieser Wege zu uns kommt, ist Loyalist. Im März 2020 hatten wir noch einen Anteil von 80 Prozent bei den Nicht-Markennutzern. Diesen Anteil haben wir auf knapp 50 Prozent reduziert. Der Rest verteilt sich jetzt auf die übrigen Gruppen, was für uns ein großer Erfolg ist.

 

Wie haben Sie Nicht-Markennutzer zu Markennutzern oder sogar Loyalisten gemacht?

Oft spielen Kleinigkeiten eine Rolle. So haben wir unsere Artikel stärker strukturiert und arbeiten mit Bulletpoints und Fettungen. Bei uns baut jeder Redakteur Einschübe in einen Artikel ein. Ganz wichtig ist zum Beispiel der Hinweis auf die App, weil der für viele Downloads sorgt und wir auch im App-Store bei den Nachrichten-Apps oft unter den Top Five sind. Wir weisen auch explizit über Inhalte auf unsere Newsletter hin. Mit Sätzen wie: "Wenn Sie wissen wollen, wie sich Corona in Ihrem Bezirk entwickelt hat, empfehlen wir Ihnen unsere Newsletter." Viel wichtiger als automatisierte Werbung ist, was die Redaktion den Leuten empfiehlt. Unsere Redakteure sind auch kleine Vertriebsweltmeister.

 

Wie viele Abonnenten haben Sie für Tagesspiegel Plus gewonnen?

Eine konkrete Gesamtzahl für den Plus-Bereich kann ich momentan leider noch nicht verraten. Nur so viel: Unsere Erwartungen wurden bisher mehr als erfüllt. Wir erreichen in der Regel rund 100 Abschlüsse pro Tag, an guten auch über 150. Auch unser E-Paper ist nach wie vor sehr beliebt. Damit überkompensieren wir den leichten strukturellen Rückgang im Printbereich

 

Wie haben Sie die Redaktion organisiert und Ihre Arbeitsweise verändert, um so arbeiten zu können? Was sind die wichtigsten Kennzahlen für die Redaktion? Gibt es neben der neuen Arbeitsweise und Organisation weitere Veränderungen, die die Reichweite beflügelt haben? Wie kann eine Redaktion immer mehr Kanäle bespielen, ohne dass die Zahl der Redakteure wächst und die Kosten steigen? Mit welchen Inhalten verkaufen Sie besonders gut Plus-Abos? Und welche Inhalte sind weniger wirksam?

Zum kompletten Interview in „kress pro“

 

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