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Wirtschaftsjournalist:in

Wie spannende Wirtschaftstexte gelingen

Wie spannende Wirtschaftstexte gelingen Carsten Korfmacher: Brich mit den Gewohnheiten! Foto R. Geßner

Zeitdruck, ein Mangel an Ressourcen oder Widerstand in den Redaktionen: Ist es unter diesen Bedingungen überhaupt möglich, einen qualitativ hochwertigen Wirtschaftsjournalismus zu produzieren?

Ja, ist es, sagt der vielfach ausgezeichnete Wirtschaftsjournalist Carsten Korfmacher („Nordkurier“) in der dreiteiligen Serie „Die 10 besten Tipps für einen erfolgreichen Wirtschaftsjournalismus im Regionalen“.

 

Tipp 1

Erarbeite Dir „das Recht“, fundierten Wirtschaftsjournalismus zu betreiben

Journalisten im Regionalen, die sich tiefer mit wirtschaftlichen Themen beschäftigen möchten, stehen vor einem Doppelproblem: Sie brauchen Zeit, die sie nicht haben, um Dinge zu tun, die sie nicht können. Wie ist das gemeint? Viele Lokaljournalisten haben keine wirtschaftliche Berufsausbildung oder ein einschlägiges Studium, gleichzeitig erlaubt ihnen die Arbeitsweise ihrer Redaktion nicht, sich ausschließlich mit einem Themengebiet zu beschäftigen und sich so zu professionalisieren. Die Konsequenz daraus: Um Dich auf ein konkurrenzfähiges Level zu bringen, musst Du anfänglich viele Extrastunden klopfen. Das ist leider so. Einen Astralkörper bekommt man auch nur mit dem notwendigen Training.

Ich verspreche Dir, dass dies der einzige deprimierende Tipp in dieser Serie sein wird! Und ganz so deprimierend ist auch dieser nicht. Denn wenn Du es richtig angehst, stellen sich ziemlich schnell Erfolge ein – sowohl Deine Lernkurve als auch Deine Texte betreffend. Die Kunst, spannende Wirtschaftstexte im Regionalen zu schreiben, besteht nämlich darin, sie nicht aus der Perspektive einer regionalen Nachricht, sondern einer interessanten Fragestellung zu betrachten (siehe Tipp 2).
 
Dadurch dringst Du sehr schnell in komplexere wirtschaftliche Zusammenhänge ein. Gleichzeitig werden Deine Texte dadurch interessanter und pointierter, weswegen sie auch besser gelesen werden. Kurzum: Mit der richtigen Herangehensweise erarbeitest Du Dir mittelfristig einen Expertenstatus, der durch journalistischen Erfolg untermauert wird – eine gute Basis, um in der Redaktion mehr Kapazitäten für die nächste spannende Geschichte einzufordern.
 
Tipp 2

Brich mit den Gewohnheiten des regionalen Journalismus

Fokussiere Dich in Deiner Themensuche nicht wie gewohnt auf Regionalität, sondern auf interessante Themen und Fragestellungen. Die Regionalisierung kommt – wenn nötig – anschließend. Das geht erst einmal gegen jede lokaljournalistische Intuition. Denn der Lokalbezug sichert einer „Heimatzeitung“ zwei Dinge: Exklusivität und Relevanz.
 
Normalerweise hat ein regionales Medium ein Monopol auf Nachrichten aus der eigenen Region. Gleichzeitig herrscht der Glaube, dass Lokalnachrichten für die Leser relevant sind, eben weil sie aus der Region sind. Diese Ideen sind nicht falsch, sie haben aber ein Problem: Weil sie auf einer thematischen Selbstzensur basieren, produzieren sie im Bereich der Wirtschaft oft einen unkreativen Journalismus, der aus einer Mischung aus lokalen Wirtschaftsnachrichten, erzwungen wirkenden Regionalisierungen und Presseagenturtexten besteht.

Das ist erstaunlich. Schließlich ist Wirtschaft an sich ein äußerst lebendiges Feld, das auf eine ganz natürliche Art und Weise jeden Menschen betrifft und interessiert. Außerdem haben uns die vergangenen Jahre gezeigt, dass wirtschaftliche Entwicklungen die Grenzen eines medialen Verbreitungsgebietes äußerst selten respektieren.
 
Das regionale Einkaufszentrum ist abhängig von der No-Covid-Politik in China; der Bäcker um die Ecke leidet unter dem Ukraine-Krieg; die Sparkasse im Ort könnte ins Wanken geraten, wenn der Anleihenmarkt in Großbritannien zusammenbricht; die heutigen Geburtenraten in Polen, Rumänien, Bulgarien oder Tschechien haben direkte Auswirkungen darauf, ob unser Rentensystem morgen noch sicher ist. Lohnentwicklung, Vermögensverteilung, Inflation, Energiepreise, Immobilienmarkt oder Arbeits­losenrate: Überall gibt es spannende Entwicklungen, die für die Menschen relevant sind, die sich aber nicht regional beschränken lassen.

Die Kunst des Wirtschaftsjournalismus im Regionalen besteht darin, sich auf die Themen zu fokussieren, die für die Leser interessant und spannend sind – und sich erst im zweiten Schritt um regionale Aspekte zu sorgen. Ich habe zum Beispiel eine achtteilige Serie zu den Einkommens- und Vermögensverhältnissen in Deutschland gemacht. Dort wollte ich unter anderem wissen: Wie haben sich die Löhne, Renten und Vermögen in Deutschland entwickelt? Warum sind Deutsche ärmer als andere EU-Staatsbürger? Sind unsere Renten sicher? Wie gelingt ein nachhaltiger Vermögensaufbau auch bei niedrigen oder mittleren Gehältern? Und so weiter.
 
Selbstverständlich habe ich die Datensammlungen um regionale Zahlen ergänzt, zum Beispiel die Medianlöhne oder durchschnittlichen Erbschaftssummen in unserer Region den Bundeszahlen gegenübergestellt. Auch kamen die Protagonisten der Serie aus unserem Verbreitungsgebiet. Die Fragestellungen an sich hatten aber nichts mit regionalem Journalismus zu tun – sie sind einfach generell spannend.
 
Tipp 3

Denke Texte von einer überraschenden oder kontroversen These aus

Du kannst keinen interessanten Wirtschaftsjournalismus machen, wenn Du genau das schreibst, was alle anderen auch schreiben. Deshalb kann es sehr hilfreich sein, gegenteilige Thesen zu prüfen, getreu dem Motto „Wenn alle A sagen, was spricht für B?“. Wenn sich zum Beispiel die Meldungen zur steigenden Inflationsrate in Deutschland überschlagen, kannst Du Argumente für die (sehr plausible) These sammeln, dass die Inflation bald spürbar abnehmen wird.
 
Das bedeutet nicht, dass Du die gegenteilige These vertreten oder zwingend zu dem Schluss kommen musst, dass die gegenteilige These richtig ist. Vielmehr ist das Ziel, einen spannenden Text zu schreiben, der Deinen Lesern Argumente für das Gegenteil von dem an die Hand gibt, was sie sonst überall zu lesen bekommen.

Diese Herangehensweise hat mehrere Vorteile: Du schaffst ein (zumindest vorübergehendes) Alleinstellungsmerkmal, wodurch sich zum Beispiel die Klickzahlen eines Textes erhöhen und Du in der Redaktion mehr Akzeptanz, und im Idealfall auch mehr Freiraum, für Deine Arbeit erhältst. So gelingt es Dir auch, mit Deinem Text überregional Beachtung zu finden. Gleichzeitig schaffst Du es, dem Leser Zusammenhänge zu vermitteln, die häufig sehr komplex und trocken sind – schließlich will er von Dir wissen, welche Gründe für die überraschende These sprechen.
 
Zu guter Letzt wird Dir Deine Arbeit auch mehr Spaß machen, weil Deine Lernkurve steiler wird. Du bist jetzt nämlich nicht mehr im Geschäft des Wiederkäuens vermeintlicher Gewissheiten, sondern Du lässt Dich in der aktiven Wahrheitsfindung auf die Komplexität wirtschaftlicher Zusammenhänge ein – Deine Leser, die Du auf diese Reise mitnimmst, werden es Dir danken.

Die Zahl der vermeintlichen Gewissheiten ist unbegrenzt. Welche anderen Ideen gibt es hier? Zum Beispiel könntest Du Dich mit der These auseinandersetzen, dass das Rentensystem unter der Wucht des demografischen Wandels zusammenbrechen wird. Das denkt so ziemlich jeder.
 
Gibt es denn gar nichts, was dagegenspricht? Doch: Zum Beispiel die Tatsache, dass der demografische Wandel schon in den 1960ern begann und sich das Verhältnis von Rentnern zu Erwerbstätigen in den letzten 35 Jahren dramatischer verschlechterte als für die kommenden 40 Jahren vorausgesagt wird. Also könnte man die berechtigte Frage stellen, warum das System nicht schon lange zusammengebrochen ist. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Renten sicher sind – aber nun haben wir eine spannende Fragestellung, auf deren Basis Du die Komplexität des Rentensystems und seine Wechselwirkung mit dem Arbeitsmarkt erklären kannst.

Oder eine These, die viele Menschen interessiert und die derzeit in aller Munde ist: „Die Immobilienpreise brechen dramatisch ein“. Tun sie das in der Breite wirklich? Oder gleicht sich der in vielen Städten und Regionen völlig überhöhte Kaufpreisfaktor – sozusagen das KGV einer Immobilie – aufgrund der moderat gestiegenen Zinsen wieder seinem historischen Durchschnitt an?
 
Auf dieser Basis kannst Du nun die Preisentwicklung bei Immobilien in Deiner Region beschreiben und die komplexen Zusammenhänge zwischen Pfandbriefen, Staatsanleihen, Bauzinsen und der Geldpolitik der EZB erklären. Womöglich springen hier bei einer intensiven Recherche gleich mehrere Texte raus.


Auf diese Weise lässt sich auch im Regionalen ein spannender, qualitativ hochwertiger Wirtschaftsjournalismus produzieren, der über Deine Region hinaus relevant ist. Doch jetzt kommt das nächste Problem: Woher bekommen wir – sozusagen am Fließband – ständig neue, überraschende und kontroverse Thesen und Themen?
Mit dieser Frage beschäftigen sich Carsten Korfmacher im zweiten Teil dieser Serie in „Wirtschaftsjournalist:in“ Ausgabe 1/2023.

 

Den vollständigen ersten Beitrag von Carsten Korfmacher finden Sie hier.