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Froben Homburger: Von schwarzen Kästen und schweigenden Chefredakteuren

Warum der Alltag von Nachrichtenagenturen vor 20 Jahren (gar nicht so) anders war als heute. Von Froben Homburger.

Frankfurt - Schneider schwieg. Und wenn ein stellvertretender Chefredakteur schweigt und dann langsam den Blick abwendet von dem Praktikanten, der eine pfiffig gemeinte Frage gestellt hat, kann das nichts Gutes bedeuten. Das ist heute noch so.

Und das war auch 1991 nicht anders, als ich in der ersten Woche meines Praktikums bei der Nachrichtenagentur AP vor Karl-Heinz Schneider stand.

 


Für Newsroom.de erinnert sich Froben Homburger, heute Nachrichtenchef der Deutschen Presse-Agentur (dpa), an seine ersten Gehversuche im Nachrichtengeschäft.

 

 

Zur Person: Froben Homburger ist seit Juli 2010 Nachrichtenchef der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Zuvor arbeitete er fast 20 Jahre für den deutschen Dienst der amerikanischen Nachrichtenagentur Associated Press (AP), zuletzt als Inlandschef und stellvertretender Chefredakteur. Für Newsroom.de erinnert er sich an seine ersten Gehversuche im Nachrichtengeschäft.

Ist es einfach nur Desinteresse? Oder schon Verständnislosigkeit? Oder womöglich doch stilles Wohlwollen? Konzentriertes Nachdenken, um auf eine so kluge Frage eine kluge Antwort zu finden? Oder aber ein Alarmzeichen: stumme Wut? Vorbote einer Abmahnung?

Schweigen ist eine Kunst

Schweigen von Chefredakteuren richtig zu deuten, ist eine Kunst. Davon kann jede Generation jedes Mediums erzählen, egal ob Volontär oder Nachrichtenchef - es ist eine der Grundwahrheiten im Alltag von Journalisten.

Eine ganz andere journalistische Grundwahrheit lautet: Der erste Blick eines Reporters konzentriert sich auf den Ort des Geschehens und schweift niemals ab. Je mehr frische Details und unverstellte Szenen der Korrespondent erfassen und im Kopf abspeichern kann, desto persönlicher und eindrücklicher wird später seine Geschichte. Auch das ist heute noch so richtig, wie es früher schon war.

Aber: Anfang der 90er Jahre wusste der kluge Agenturjournalist, dass er nach Ankunft an der Unglücksstelle mehr tun musste, als schnelle erste Eindrücke von Zugunfall oder Häuserbrand zu sammeln, Augenzeugen zu suchen und in Gedanken den Leadsatz des Eil-Spots zu formulieren.

Wo ist die Telefonzelle?

Zielstrebige Recherche und klare Sprache bildeten zwar schon immer den Kern einer guten Meldung. Über Sieg oder Niederlage im Konkurrenzkampf der Nachrichtenagenturen konnte damals aber eine ganz profane Frage entscheiden: Wer entdeckt zuerst eine öffentliche Telefonzelle?

Ohne sie ging für Agenturreporter fast nichts in den Zeiten vor Smartphone und schnellem Internet. Zwar gab es auch vor 25 Jahren schon transportable Telefone, aber die gängigen C-Netz-Geräte waren den wirklich großen Ereignissen vorbehalten. Und bei einem Gewicht um sieben Kilogramm war Mobilfunk eine sehr freundliche Umschreibung für die dicken, schwarzen Kästen mit Antenne und separatem Telefonhörer.

Meine Anfänge als freier Korrespondent für Associated Press führten mich immer wieder an den Rand des Nervenzusammenbruchs: Das Feature über den spektakulären Fossilienfund in Nordhessen war zwar sauber in den Notizblock geschrieben, doch bei der Autofahrt durch die Weiten des Waldecker Landes kam kilometerlang keine Telefonzelle in Sicht. Und war der öffentliche Fernsprecher endlich gefunden, musste er nicht selten gegen Angriffe ebenso verzweifelter dpa-Reporter verteidigt werden.

Die Geschichte des Wettstreits der Agenturen um die schnellste Meldung ist voll von Beispielen erbitterter Kämpfe um den nächsten freien Hörer.

Die telefonische Textaufnahme – in der Zentrale des deutschen AP-Dienstes in Frankfurt am Main übernahmen das so genannte Redaktionstechnische Assistentinnen (RTA) – barg natürlich ein gewisses Fehlerrisiko.

Namen mussten grundsätzlich buchstabiert und von den RTA noch einmal wiederholt werden, aber ob ein „vielmehr“ am Ende auch genau so oder aber als „viel mehr“, „viel eher“, „viel näher“ oder gar „fiel mehr“ auf den Agenturdraht ging, hing nicht zuletzt von der Aussprache des Reporters und der Auffassungsgabe der Assistentin ab.

Renterschwämme statt Renterschwemme

Die ganze Tücke telefonischer Aufnahmen zeigte sich 1996: Zum Unwort des Jahres kürte die AP damals nicht etwa die „Rentnerschwemme“, sondern die selbst in gut sortierten Drogerien bis dahin unbekannten „Rentnerschwämme“.

Schon bald löste die Datenübermittlung via Notebook die Telefonaufnahme ab - die Suche nach einer Telefonzelle war für den Reporter damit aber noch lange nicht beendet.

Denn jetzt kam der Akustikkoppler zum Einsatz, eine Art mobile Verlängerung des Modems: Der über ein Modem mit dem Laptop verbundene Koppler hatte zwei Gummiaufsätze, an die Hör- und Sprechmuschel des Telefons angedockt wurden. Der Korrespondent wählte eine für die Datenübermittlung reservierte Nummer seiner Zentrale an - und begann zu bangen und zu beten.

Selbst leise Nebengeräusche oder kleine Erschütterungen durch vorbeifahrende Lastwagen (oder an die Zellentür klopfende dpa-Kollegen) konnten den empfindlichen Übertragungsprozess vorzeitig beenden. Erfahrene Reporter hatten deshalb neben 50-Pfennig-Stücken für den Fernsprecher immer auch ein Gummiband zur Hand, um den Hörer zusätzlich am Koppler zu fixieren und die Verbindung so etwas stabiler zu gestalten.

 


Notebook Toshiba T1850 und Dataphon-Akustikkoppler von Anfang der 90er Jahre. Foto: Marcus Brandt, dpa

 

8 Bit für einen Buchstaben

Das Pfeifen, Kratzen und Klopfen beim Aufbau der Datenverbindung war schönster Lohn für die technischen Mühen - das Modem musste oft erst noch mit kryptischen Befehlen auf die Übertragung vorbereitet werden. Die Übertragungsgeschwindigkeit lag bei 2400 Bit pro Sekunde. Und da ein einziger Buchstabe schon 8 Bit verbrauchte, konnte der Korrespondent gewissermaßen in Echtzeit verfolgen, wie Satz für Satz gemächlich übertragen wurden.

Aus heutiger Sicht beschwerlich war in diesen prämodernen Medienzeiten aber nicht nur die Übermittlung von Texten, sondern auch die schnelle Vorbereitung auf aktuelle Themen und Termine: Wer kann sich heute noch ernsthaft eine kurzfristige Recherche ohne Internet und elektronisches Archiv vorstellen?

Gefragte Generalisten

Anfang der 1990er Jahre in der Zentrale der deutschen AP zu arbeiten, hieß daher vor allem, Generalist zu sein und binnen kurzer Zeit unfallfrei zwischen unterschiedlichsten Themenfeldern hin- und herspringen zu können. Die Frankfurter Inlandsredaktion bestand aus einem Dutzend Redakteuren, die über den missglückten Polizeieinsatz gegen RAF-Mitglieder in Bad Kleinen genauso zügig und hintergründig zu berichten hatten wie über die Steinkühler-Affäre bei der IG Metall, das Jahrhunderthochwasser an Rhein und Mosel oder den Tod des Musikproduzenten Torsten Fenslau.

Wer 1993 als „AP-Spätslot“, also Chef vom Dienst in den Abendstunden, herausfinden wollte, welche Passage eines Rudolf-Scharping-Interviews zur ökologischen Steuerreform wenigstens ein bisschen Neuigkeit enthielt, musste tief in das so genannte Hand-Archiv eintauchen: In den Hunderten Hängeordnern waren die ausgedruckten AP-Meldungen aus vielen Jahren einsortiert - nach einem recht eigenwilligen System, das stark davon abhing, welche Archivarin welche Meldung wie interpretiert hatte.

Frühere Scharping-Äußerungen zur ökologischen Steuerreform konnten daher in der Mappe „Parteien - SPD“ gelandet sein oder aber in „Politiker - Scharping“, genauso gut natürlich auch in „Bundespolitik - Finanzen“, eventuell in „Umwelt“ oder schlimmstenfalls in einer ganz neu angelegten Untermappe, von deren Existenz nur die Archivarin etwas wusste.

Ein Bericht über die "Pizza Connection" - einen sizilianischen Drogenring in den USA - fand sich übrigens nach langem Suchen im Ordner "Nahrungsmittel".

Die abendliche AP-Berichterstattung barg ohne Zweifel besondere Herausforderungen, und ich betrachte es im Nachhinein als große Gnade, dass die Stefan Niggemeiers, Lukas Heinsers und Boris Rosenkranze dieser Zeit uns noch nicht so auf die Finger schauen und klopfen konnten, wie sie es heute (mal mit mehr, mal mit weniger Recht) tun.

Mehr Muße für die Recherche

Andererseits hatte ein Agenturkorrespondent vor 20 Jahren in der Regel mehr Muße für die Recherche: Das Meldungsaufkommen lag deutlich unter dem heutigen, ohne Social Media war die Medienwelt etwas unaufgeregter, die Konkurrenzbeobachtung beschränkte sich auf das Abhören von Radionachrichten zu jeder vollen Stunde, und der Newstakt wurde nicht von Online-Medien bestimmt, sondern orientierte sich an den Bedürfnissen und Redaktionsschlusszeiten der Tageszeitungen: Auch zu wichtigen Themen ging die erste Zusammenfassung oft erst nach 15.00 Uhr auf den Draht.

In den Stunden davor konnte sich der Redakteur darauf konzentrieren, Informationen, Hintergründe und Stimmen zu sammeln - höchstens unterbrochen von Spots bei sehr wichtigen Entwicklungen.

Sehr viel stärker reglementiert war zu dieser Zeit der Meldungsstil. Mit Nachrichtensprache spielte man nicht - anders als heute, da moderne Agenturformate von Fragen & Antworten und Pro & Contra über „Im Fokus“ bis hin zu Listicles auch zu frischeren Formulierungen einladen, Teaser zusätzliche Lese-Reizpunkte setzen, schon der Leadsatz einordnen und erklären und nicht einfach nur verlautbaren soll und Hybride wie die angefeaturete Zusammenfassung die Brücke von der klassischen Nachricht zum Korrespondentenbericht schlagen.

Konjunktiv I oder Konjunktiv II?

Aus der Chefredaktion kamen damals seitenlange Abhandlungen über die verbotene kausale Verwendung der Präposition „durch“ („Er starb durch Polizeikugeln“), die bei AP nur räumlich verwendet werden durfte („Er fuhr durch einen Tunnel“), die (bis heute nicht einzudämmende) Verwechslung des konditionalen Konjunktivs II ("hätte") mit dem Konjunktiv I der indirekten Rede ("habe") oder den falschen Gebrauch des gleichzeitigen „als“ im Sinne von „nachdem“ oder „weil“ ("Er starb, als ihm ein Stein auf den Kopf fiel").

 


Unser Gastautor Froben Homburger im Jahr 1993 am so genannten ‚Inlandsslot‘ in der AP-Zentrale in Frankfurt am Main. Foto: privat

 

 

Über manches davon mag man heute lächeln, vieles hat aber an Richtigkeit und Wichtigkeit nichts eingebüßt: Während meines AP-Praktikums im Frühjahr 1991 zitierte mich die Chefredaktion in ihr Büro, weil ich in einer kleinen Auslandsmeldung den ältesten Todeskandidaten der USA als „Greis“ bezeichnet hatte.

Vize-Chefredakteur Karl-Heinz Schneider rügte, dieser Begriff sei abwertend und verächtlich und habe daher in einer AP-Nachricht nichts zu suchen.

Ich fand die Kritik ungerecht und überzogen, nahm meinen ganzen Praktikantenmut zusammen und stellte die Frage, die mir damals so gewitzt, aber auch so naheliegend erschien: "Meinen Sie nicht auch, dass ein Todeskandidat andere Sorgen hat?"

Schneider schwieg.

Ich konnte Schweigen noch nie gut aushalten, und je länger Schneider schwieg, desto sicherer war ich, dass meine Frage nicht nur das Gespräch, sondern vorzeitig auch das Praktikum beendet hatte.

Der AP-Vize drehte sich weg und begann, in Papieren zu lesen.

Ich glaubte die Botschaft zu verstehen, ging mit weichen Knien zur Tür, da zischte es hinter mir: "Ein Journalist darf Sorgfalt niemals von der Frage abhängig machen, ob sich Opfer journalistischer Sorglosigkeit wehren können. Lernen Sie das schnell. Es ist eine Grundwahrheit unseres Berufs."

Froben Homburger

Erinnern Sie sich noch an Ihre ersten Gehversuche im Journalismus? Schicken Sie uns Ihre Erinnerungen mit Fotos "von damals" an redaktion@newsroom.de.

 

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