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Joachim Braun: Was guten Lokaljournalismus ausmacht

Was macht guten Lokaljournalismus aus? Joachim Braun muss es wissen.

Bayreuth - Der Vollblutjournalist, Chefredakteur des in Bayreuth erscheinenden „Nordbayerischen Kuriers“, forderte bei der Preisverleihung des Darmstädter Journalistenpreises von Lokaljournalisten mehr Selbstbewusstsein, die Abkehr von der reinen Nachricht und Haltung.

NEWSROOM dokumentiert seine Darmstädter Rede in leicht gekürzter Form. B.Ü.

 


Joachim Braun ist Chefredakteur vom "Nordbayerischen Kurier". Newsroom.de dokumentiert seine Darmstädter Rede in leicht gekürzter Form..

 

 

Lokaljournalismus ist eine Disziplin, bei der man bis vor wenigen Jahren das Gefühl haben konnte, sie sei in Ehren ergraut und würde bald pensioniert oder demütig aufs Ende warten. Heute indes erleben wir etwas ganz anderes: Eine Branche im Aufbruch, eine Branche mit vielen, neuen Ideen. Nie gab es so viel journalistische Qualität, nie so viele Experimente.

„Darmstädter Echo verübt Suizid mit Ankündigung“

Der spinnt, der Braun, werden jetzt viele von ihnen denken. Und wenn Sie nur die Verlagsbranche anschauen, haben Sie auch vollkommen Recht: Ihre Zeitung hier vor Ort, das „Darmstädter Echo“, verübt gerade Suizid mit Ankündigung, reduziert die ohnehin schon verunsicherte Belegschaft von 300 auf 140 Stellen. Und egal, ob sie nach Berlin, Essen, Hannover oder nach Rostock schauen, regionale Zeitungsverlage machen derzeit ausschließlich mit Stellenkürzungen Schlagzeilen.

Oder schauen wir auch nur nach Frankfurt: 200 Stellen weniger bei der alten Tante FAZ sind, selbst verteilt auf die drei kommende Jahre, kein Hoffnungssignal. Wer aber weiß, dass allein für den vergangene Woche eingestellten Comic im Feuilleton pro Ausgabe mehrere hundert Euro Honorar gezahlt wurden, dem ist klar, hier ist - nicht nur bei den Jobs - noch reichlich Sparpotenzial vorhanden.

Deutsche Zeitungsverlage sind die schwerfälligste Branche, die man sich vorstellen kann. Wären sie Schrittmacher der deutschen Wirtschaft, wir wären inzwischen auf einem Niveau mit Moldawien. Und jetzt, da die Gewinne nicht mehr fett zweistellig sind - jedenfalls bei den meisten - und das bewährte Geschäftsmodell Tageszeitung erodiert wird, fehlt es am Können, am Mut, und leider inzwischen oft auch am Geld, den digitalen Wandel aktiv zu gestalten.

Produktentwicklung, Marktforschung – all dies sind Anforderungen, die Verlage erst lernen müssen. Und viele suchen ihr Heil ausschließlich in der Reduzierung von Kosten, also dem Verzicht auf Fachkräfte, statt sich darauf zu konzentrieren, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, sich neu zu erfinden. Und irgendwann fehlt diesen Verlagen dann tatsächlich die Kraft zum Wandel, das „Darmstädter Echo“ mag ein Beispiel dafür sein.

„Zeitungskrise ist eine Verlagskrise“

Was ich damit sagen will? Unsere Zeitungskrise ist in erster Linie eine Verlagskrise. Eine Krise des Journalismus‘ ist sie nicht. Der Journalismus blüht, in Print, vor allem aber im Netz. Lokale Blogs, multimediales Storytelling, Datenjournalismus, Liveblogging, Videos, der Einsatz von Drohnen – nie war lokaler Journalismus so vielseitig wie heute, nie war er so interessant, so qualitativ hochwertig, so nah am Kunden  – und nie war er so schlecht finanziert.

Wir erleben eine Gründerzeit, die nur zum Teil aus der Not geboren ist. Dann nämlich wenn gut ausgebildete Journalisten von den Verlagen auf die Straße gesetzt wurden und diese wagemutig sind, um sich mit jungen Leuten mit Programmierkenntnissen zusammenzutun.

„Klassische Print-Journalisten bleiben auf der Strecke“

Hochspannende, journalistische Projekte entstehen aber auch durch Leute, die nicht aus dem tradierten Journalismus kommen. Als ein Beispiel möchte ich hier Lorenz Matzat nennen, der von Berlin-Kreuzberg aus mit geodatenbasierten Anwendungen und Daten-Projekten erfolgreich experimentiert - vielleicht erinnern Sie sich an den Zugmonitor der „Süddeutschen Zeitung“ - und der dank vieler guter Ideen und großen Wissens daraus auch ein funktionierendes Geschäftsmodell entwickelt hat.

Wer bleibt auf der Strecke? Gerade jetzt? Wir, die gelernten Print-Journalisten, die Redakteure in Lokalzeitungen, deren Auflagen langsam schwinden, die Anzeigen nur noch lokal verkaufen können und deren öffentliches Ansehen in den Keller fällt.

Und das Blöde dabei. Wir sind auch noch selber schuld, denn unsere Zeitungen sehen vielfach noch so aus wie vor 20 Jahren. Der digitale Wandel wird trotz oder gerade wegen einer treuen 65-Plus-Leserschaft noch immer geleugnet.

Der stellvertretende Chefredakteur einer großen, ja sogar sehr großen süddeutschen Regionalzeitung wollte vorige Woche auf Facebook besonders lustig sein und postete: „Fühle mich richtig schlecht als Teil der mutlosen und konventionellen deutschen Medienszene, wo funktionierende Geschäftsmodelle Arbeitsplätze sichern und die Veränderungsprozesse mit Augenmaß gesteuert werden. Würde lieber irgendwo arbeiten, wo man versucht, mit dem Kopf durch die Wand zu rennen und fette rote Zahlen schreibt.“

„Digital Natives“ ist klassische Zeitung egal

Mich ärgern solche Kommentare, denn der Mann hat nicht kapiert, wohin die Reise geht und dass es nicht reicht „Veränderungsprozesse mit Augenmaß“ zu gestalten, denn die Welt da draußen, die Welt der 20, 30, ja auch der 40-Jährigen richtet sich nicht nach solchen Bedürfnissen. Ihnen, den digital natives ist Zeitung, wie wir sie heute machen, schlicht egal.

Genug des Wehklagens, genau der Kritik. Herr Zitzmann wollte, dass ich Ihnen Mut mache. Und das will ich gerne tun, dafür stehe ich auch mit meiner Zeitung, dem „Nordbayerischen Kurier“.

Vor diesem fachkundigen Publikum – außer meinen Kollegen ist kaum jemand als Zeitungsleser so geübt, wie Politiker und sonstige Bosse – vor diesem fachkundigen Publikum möchte ich in zehn Thesen formulieren, wie Lokaljournalismus aus meiner praxisbezogenen Sicht wieder die Relevanz bekommt, die er verdient. Es sind vor allem Forderungen an uns selber, die Journalisten. Aber auch Forderungen an Verleger, an Verlagsgeschäftsführer. Wenn die nicht an das Produkt Journalismus glauben, funktioniert es natürlich nicht.

Meine erste Forderung lautet:

Mehr Selbstbewusstsein

Wiebke Möhring, eine der wenigen deutschen Publizistik-Wissenschaftlerinnen, die sich auch inhaltlich mit dem Lokaljournalismus auseinandersetzen, hat von den lokaler Medien ein verheerendes Bild gezeichnet. Eine richtige Beobachtung. Und natürlich lässt sich an diesen Defiziten auch etwas ändern.

In den meisten Lokalzeitungen sind Journalisten längst Teil des Systems geworden, Bestandteil der örtlichen Eliten. In Bezug auf unsere wichtigste Tugend, die Glaubwürdigkeit, ist dies das pure Gift. Ein Symptom der Schwäche und ganz und gar nicht ein Aspekt von Selbstbewusstsein.

„Journalisten haben im Lions-Club nichts zu suchen“

Gerade Lokaljournalisten müssen sich wieder viel stärker ihrer eigentlichen Rolle bewusst werden. Uns muss klar sein, dass wir den Oberbürgermeister duzen dürfen, dass wir aber auf keinen Fall dessen Freund sind. Auch im Lions- oder Rotaryclub haben wir nichts verloren.

Als ich im März 2011 in Bayreuth anfing, traf ich auf eine Redaktion, die zwar engagiert war, aber kein originäres Rollenverständnis hatte.  Deren Redaktionsleitung kungelte mit den lokalen Eliten und dadurch wurde auch den motivierten, kritischen Kollegen der Schneid abgekauft. Welcher abhängige Angestellte verkraftet schon Zwei-Fronten-Kriege: Also Druck von betroffenen Lesern und vom eigenen Chef. Kein Wunder, dass die besten Reporter in meiner Redaktion in der inneren Emigration waren und das Mittelmaß regierte.

Das hat sich inzwischen gedreht. Denn die politischen Berichterstatter beim „Nordbayerischen Kurier“ wissen, dass sie das Recht auf eine eigene Meinung nicht nur haben, sondern auch ausüben sollen und dass die sich dabei immer der Rückendeckung der Redaktionsleitung sicher sein können.

Dass diesen neuen Stil nicht alle in Bayreuth mögen, können Sie sich sicher vorstellen. Und ich gebe zu, dass meine Eitelkeit einen Knacks erlitt, als d e r Bayreuther Promi-Wirt schlechthin vor einigen Monaten zu seinem runden Geburtstag alle möglichen A- und B- Promis der Stadt einlud - nur mich nicht.

Dabei wäre ich gar nicht hingegangen, ich wollte einfach selber absagen.

Inzwischen finde ich die Nichteinladung allerdings klasse, zeigt sie doch, dass der von mir propagierte Perspektivwechsel - dazu später noch mehr - funktioniert. Denn in gleichem Maße, wie die Stadtoberen uns nicht mehr als Teil ihres Systems betrachten können, gewinnen wir bei unseren eigentlichen Lesern, den normalen Leuten - also geschätzt 97 Prozent unserer Leserschaft - an Glaubwürdigkeit zurück. Das ist es, was ich mit Selbstbewusstsein meine.

Wir Journalisten haben nun mal viele Privilegien. Die gibt uns das Grundgesetz. Was oft verkannt wird: Es geht nicht nur um Rechte, sondern um Pflichten - eine der wichtigsten ist die, unabhängig zu sein.

Kommen wir zu meiner zweiten Forderung. Sie lautet:

Mitreißend schreiben

Wenn ich Lokalzeitungen lese, dann bin ich immer wieder irritiert von der Teilnahmslosigkeit der Texte, von dem nachrichtlichen Stil, von der puren  Informationsübermittlung. Von einer Sprache, die nicht haften bleibt, weil ihr - zum Beispiel - die Bilder fehlen. Wer will so etwas noch lesen - in einem Medium, das ohnehin immer zu spät dran ist?

Klar haben wir in Deutschland das System der strikten Trennung zwischen Bericht und Kommentar. Und klar finde ich das auch richtig. Aber nicht immer. Nicht bei allen Themen und Texten.

„Lokaljournalisten müssen Emotionen vermitteln“

Gönnen wir Lokaljournalisten uns doch mal nicht nur Streuselkuchen, sondern Buttercremetorte. Es macht doch Spaß, auch mal Emotion zu vermitteln, Begeisterung zu transportieren oder auch Ekel. Seien wir doch mutig und stellen uns damit auch der Kritik der Leser. Sie wird unweigerlich kommen.

Aber: Auch unsere Kritiker haben den Text gelesen. Sie setzen sich mit dem Artikel auseinander. Und das ist doch viel besser, als die Gleichgültigkeit, die bis heute viele journalistische Produkte - lokal wie überregional - durchzieht und von den Lesern auch so wahrgenommen wird.

Cornelius Seibt, Journalist und Blogger beim „Tagesanzeiger“ in Zürich, hat dazu voriges Jahr ein Buch geschrieben - „Deadline“ heißt es - dass ich Journalisten und ihren Chefs sehr empfehlen kann.

Forderung drei: Wir müssen die

Themen setzen

Wir also, wir Lokaljournalisten müssen in unserem Verbreitungsgebiet mitteilen, was wichtig ist und dürfen dies nicht den Politikern überlassen, nicht den Vereinsmenschen und schon gar nicht irgendwelchen Interessenvertretern.

„Abschied von Terminjournalismus“

Dazu gehört natürlich auch, dass wir uns weitestgehend vom Terminjournalismus verabschieden. In Zeiten des Internets und der Medienvielfalt sind wir nicht mehr Chronisten, die, für die Nachwelt festhalten, was alles passiert ist. Nein, diese Zeiten sind vorbei, auch wenn viele Lokalredaktionen sich dem – noch - verweigern. Endgültig sind sie vorbei. Chronist sein können andere viel besser. Vereine auf ihren Webseiten, Verbände mit online gestellten Pressemitteilungen, das Rathaus mit seinem wöchentlichen Newsletter.

Unser Job ist mehr denn je, einzuordnen, unseren Lesern zu sagen, was ist wichtig für Euch. Was müsst Ihr unbedingt wissen. Worauf solltet Ihr Euch einstellen. Und: Warum?

Vorige Woche war ich in Bremen. Die dortige Regionalzeitung machte am Freitag auf Seite 1 auf, dass bei der Bahn gestreikt wird. Als ob das zu diesem Zeitpunkt nicht schon alle wussten. Der „Nordbayerische Kurier“ erläuterte die Situation in Bayreuth, also welche Züge voraussichtlich fahren und welche nicht. Schon ganz gut. Optimal wären noch gewesen „Zehn Tipps, wie ich mit dem Bahnstreik umgehen kann“. Aber die laufen uns bei den Lokführern ja nicht davon.

Agenda-Setting geht aber natürlich viel weiter. Und in der Stadt, ich denke auch mal in Darmstadt, ist das für eine Zeitung noch ganz gut zu machen, in ländlichen Gebieten kann dies zum Höllenjob werden.

Vor ein paar Wochen kündigte der Bürgermeister einer kleinen Gemeinde genau aus diesem Grund das Abo unserer Zeitung. Nicht einfach still und leise, nein, er schickte die Kündigung auch noch allen Bürgermeisterkollegen und den Bürgern seiner Gemeinde. In einem ellenlangen Schreiben kritisierte er eine Reihe von Texten, in denen die Redaktion genau das Geforderte gemacht hatte, nämlich Themen gesetzt, und rügte uns, weil wir über die - stinklangweilige - Bürgerversammlung in seiner Gemeinde nur 65 Zeilen gebracht hatten und über den Neujahrsempfang gar nur 24 Zeilen.

Eine Porträtreihe über Menschen in Bayreuth hielt er für Platzverschwendung, und dass wir an spannenden, lokalen Themen dranblieben ärgerte ihn: „Man kann es nicht mehr lesen.“

Das ist die Meinung eines Bürgermeisters, wohlgemerkt. Eines Mannes, der es für einen grundlegenden Fehler hält, dass wir nicht mehr überwiegend auf Themenvorgaben aus Rathäusern setzen. Denn, so wörtlich, „das Volk ist nicht dumm, sondern unwissend“.

Es wird Zeit, daran etwas zu ändern.

Wir müssen also unseren Lesern Orientierung geben. Orientierung durch hintergründige Aufklärung, aber auch durch Meinungsbeiträge, in denen wir bewerten, was passiert ist.

Meine Forderung vier:

Haltung zeigen

Kommentare in Lokalzeitungen, wenn es sie denn überhaupt gibt - neulich las ich über ein Vierteljahr eine große Regionalzeitung und fand nicht einen einzigen lokalen Kommentar - Kommentare in Lokalzeitungen folgen in der Regel dem Muster sowohl als auch. Ausgewogen sind sie, nicht zu unfreundlich. Der Journalist will sich bloß nicht festlegen. Könnte ja Ärger geben.

Solche Kommentare sind den Platz nicht wert. Denn was habe ich als Leser davon? Was bringt mir ein solcher Kommentar?

Dass es an Haltung fehlt, ist eine der meist geübten Kritiken an Zeitungen. Ich finde zu Recht. Gerade wir Lokaljournalisten müssen dorthin gehen, wo es weh tut. Wir müssen Stachel im Fleisch sein.

„Lokaljournalisten müssen Stachel im Fleisch sein“

Wenn wir schreiben, dass der Oberbürgermeister oder der Landrat wegen seiner politischen Fehler eigentlich unverzüglich zurücktreten müsste, dann gibt es, Sie können sich das vorstellen, ein sagenhaftes Echo. Vor allem, wenn er – wie in Bayreuth - der bayerischen Mehrheitspartei angehört. Aber tatsächlich müssen wir als Journalisten nichts befürchten, wenn wir diese Forderung nachvollziehbar begründen können. (Klammer auf: Wenn das der Geschäftsführer und/oder der Verleger auch so respektieren).

Mit klarer Kante aber gewinnen wir in den Augen der Leser Größe. Und wir bekommen plötzlich von Menschen ganz bereitwillig brisante Informationen, die wir selber bisher nicht darum gebeten hätten.

Haltung lohnt sich also.

Es gibt allerdings eine Gefahr: Der Grat, in der Öffentlichkeit als Nörgler abgespeist zu werden, ist schnell überschritten.

Christian Jakubetz hat diesen Konflikt kürzlich mal in einem Blogbeitrag gut dargestellt. Ich zitiere: „Es gibt nichts im Journalismus, zu dem Menschen ein ambivalenteres Verhältnis haben. Nichts ist so widersprüchlich wie die Haltung zum Lokalen. Natürlich wünscht man sich eine kritische Grundhaltung und natürlich sollen Journalisten auch in der kleinsten Lokalredaktion noch den Finger in die Wunde legen. Theoretisch zumindest. Wer es in der Praxis tut, der wird dann gerne mal nicht als Aufklärer gefeiert, sondern als Nestbeschmutzer beschimpft.

Wer umgekehrt Heile-Welt-Journalismus betreibt, muss zwar keinerlei Ärger fürchten. Er darf aber auch nicht erwarten, dass man ihm mit besonders viel Respekt für seine Tätigkeit entgegenkommt. Oder ihn womöglich sogar noch ernst nimmt. Es gibt vermutlich nur sehr wenige Lokaljournalisten, die man nicht schon mal mit milde-abschätzigen Begriffen belegt hat.

Kommen wir zu Forderung 5:

Verzichten lernen

Ich sprach schon davon, dass wir Journalisten nicht mehr Chronisten sind, dass wir stattdessen Themen setzen müssen. Das erfordert von uns aber auch, dass wir gewisse Dinge nicht mehr tun, etwa weil uns die Zeit fehlt, der Platz oder weil es sie nicht braucht.

Das ist bei uns in Bayreuth zum Beispiel die Vereinsberichterstattung. Vor drei Jahren haben wir sie aus der Tageszeitung verbannt.

Stattdessen bringen wir einmal in der Woche die Beilage „Mein Verein“. Sie erscheint im Halbformat, hat bis zu 64 Seiten, ist zur Hälfte gefüllt mit Texten, die die Vereine selber liefern und zur anderen Hälfte mit denen der treuen alten freien Mitarbeiter.

Der Clou dabei: Diese Beilage ist nicht redigiert, die Texte erscheinen, wie die Vereine sie liefern. Die wichtigsten Effekte: Ich habe seither täglich fünf Reporter mehr zur Verfügung, um Geschichten zu recherchieren. Ich habe den Platz, um diese Geschichten zu veröffentlichen. Und ich liefere journalistische Qualität, die vorher nicht denkbar war.

Ich will nicht verschweigen, dass es bis heute Kritiker von „Mein Verein“ gibt. Es sind Bürgermeister und Vereinsvorsitzende, jene Menschen also, die früher immer flankierend auf Ehrungsfotos in die Zeitung kamen. Die meisten Leser aber haben sich längst daran gewöhnt, und sie wissen „Mein Verein“ als zielgruppenorientiertes Produkt zu schätzen.

„Redaktion muss alte Zöpfe abschneiden“

Dies ist nur ein Beispiel, mein Lieblingsbeispiel. Viele Dinge in der Lokalzeitung sind verzichtbar, in jeder Zeitung sind es andere. Die Redaktion muss allerdings den Mut haben, alte Zöpfe abzuschneiden.

Es geht dabei auch um eine grundlegende Richtungsentscheidung: Mittelmäßiges Material hat in der Zeitung von heute nichts verloren, sondern nur gutes oder sehr gutes. Bildhaft formuliert: Wir haben die Wahl, ob wir Aldi, Tengelmann oder Dallmayr sein wollen.

Für Forderung Nummer 6 ist diese Entscheidung ebenfalls notwendig

Geschichten erzählen

So viel möchte ich zu diesem Thema  nicht sagen, weil dies eigentlich selbstverständlich und eine journalistische Tugend ist. Aber noch immer bestehen viele Zeitungen aus Nachrichten, sind Nachrichten getrieben. Ein, zwei Quellen und dann war’s das. Als ob das, was dort steht, nicht alles schon längst bekannt ist.

„Nachricht alleine ist hinfällig“

Auch im Lokalen ist die Nachricht heute hinfällig. Die Leser wissen längst Bescheid, was am Vortag passiert ist - im günstigsten Fall vom eigenen Internetauftritt. Stattdessen muss die Zeitung Mehrwerte bieten, die Langsamkeit des gedruckten Produktes als Qualität entwickeln und die gewonnene Zeit nutzen, um Hintergründe aufzuzeigen, Konsequenzen eines Vorgangs, Lebenshilfe und Nutzwertiges.

Das ist tatsächlich ein Allgemeinplatz, aber schauen Sie sich mal aufmerksam Zeitungen an. Noch immer haben die News dort einen Stellenwert, der dem bei den Lesern überhaupt nicht entspricht.

Forderung 7 ist noch mal so eine Binse:

Den Leser ernst nehmen!

Das will doch wohl jeder. Aber tun wir das auch? Kommen wir wirklich mit den Lesern in Kontakt? Wissen wir, was unsere Kunden wollen? Ich glaube, zumindest wir in Bayreuth haben da viel Nachholbedarf, auch wenn wir inzwischen jeden Tag intensive Diskussionen mit unseren gut 15000 Facebookfreunden führen. Auch wenn wir aus den sozialen Medien ständig neue Themen generieren und gut mit Infos versorgt werden. Auch wenn wir Podiumsdiskussionen machen, im Wahlkampf ein Wahlmobil in die Dörfer schicken.

Ich glaube, das reicht alles noch lange nicht aus. Wir müssen den Lesern viel stärkeren Einblick und auch Mitwirkungsmöglichkeiten geben in die Abläufe in der Redaktion und sie zum Teil des Produkts machen.

Nur eine, wie ich finde, sehr gute Idee dazu. Sie wurde bei der „Braunschweiger Zeitung“ entwickelt. Dort finden regelmäßig Interviews mit Ministern und anderen Würdenträgern statt, die von Lesern geführt werden, nicht von den Journalisten. Also der niedergelassene Anwalt und der ehemalige Gerichtspräsident interviewen den Justizminister. Der Aufwand dafür ist extrem hoch, aber er lohnt sich.

Ich bin jedenfalls überzeugt, dass wir die meisten Innovationen in den nächsten Jahren bei Thema Beteiligung der Leser haben werden. Klar sagen möchte ich allerdings: Hier geht es nicht um Bürgerjournalismus. Im Gegenteil, wir Journalisten publizieren, aber wir holen uns die Unterstützung der Leser, unserer Kunden.

Meine achte Forderung:

Sich Zeit nehmen

Diese Forderung mag für Branchenfremde paradox klingen. Hier anwesende Kollegen des „Darmstädter Echos“ und anderer Lokalzeitungen verstehen aber sofort, was ich meine. Unter der steigenden Arbeitsverdichtung in vielen Lokalredaktionen, die dazu noch mit weniger Leuten auskommen müssen, versuchen die Kollegen, einfach abzuarbeiten, was reinkommt. Das Mögliche zu erledigen. Die Pflicht.

Ich halte das für einen falschen Weg. Wir müssen in den Redaktionen immer wieder diskutieren können, was wir tun und wie wir es tun. Und wir brauchen Konzepte gegen die Übermacht der Pflicht. Die Leser jedenfalls merken, wie wir ertrinken. Für die macht Zeitunglesen genauso wenig Spaß wie für uns Zeitungmachen unter solchen Bedingungen.

Ich plädiere deshalb dafür, Freiräume zu schaffen und die Seele der Zeitung, wie es in meinem Zitat heißt, immer wieder aufs Neue zu formulieren oder wenigstens zu entdecken.

Das ist natürlich in erster Linie ein Appell an Verleger und Geschäftsführer - und ich fürchte, er kommt zu spät für das „Darmstädter Echo“. Aber Zeit zum Reflektieren zu haben, ist unbedingt notwendig, um Qualitätsjournalismus - jetzt verwende ich doch dieses Buzzword - weiterzuentwickeln.

Das bringt mich zu Forderung 9: Auch Journalisten müssen

Unternehmerisch denken und zur Marke werden.

Sie müssen raus aus dem Hintergrund. Sie müssen sich den Lesern stellen. Das wollen viele Kollegen nicht. Für die ist es schon ein Kulturbruch, wenn ihr Porträtbild zum Kommentar gestellt wird.

Aus eigener Erfahrung kann ich Ihnen sagen, die Leser goutieren es, wenn Journalisten stärker auftreten. Unser Chefreporter in Bayreuth, Otto Lapp, ist ein Trüffelschwein, wie es sich jeder Chefredakteur wünschen sollte. Nehmen wir seine Recherchen im Fall Gustl Mollath. Der ist ihnen sicherlich vertraut.

Im August 2014, nach 17 Tagen Wiederaufnahmeverfahren am Landgericht Regensburg und intensiven Zeugenvernehmungen, wurde schwere Körperverletzung gegen seine Ex-Frau als erwiesen angesehen, ebenso wahnhafte Zwangsvorstellungen.

Dieses Urteil war eine Klatsche für fast alle deutschen Medien, für die SZ, die FAZ, die ARD und dpa. Sie hatten Mollath, der in Bayreuth in der Psychiatrie einsaß, jahrelang ausschließlich als Opfer von Staatsregierung, Justiz und eines Schwarzgeldkomplotts dargestellt. 

Wir hingegen hatten eigene Recherchen angestellt und schon vor eineinhalb Jahren nachgewiesen, dass Mollaths Verschwörungstheorien jeder Grundlage entbehrt hatten.

Keine Recherche hat uns auf der anderen Seite so viel Ärger eingebracht: Ob im Netz, wo Chefreporter Otto Lapp als „Lügen-Lapp“ durchgewatscht wurde, in Leserbriefen und auch persönlich auf der Straße.

Der Journalist als Marke, die Marke Lapp. Dessen Texte sind auf unserer Webseite grundsätzlich Paid Content. Die Leser sehen seinen Namen und wissen, da gibt es eine interessante Geschichte, und darum kaufen sie die Texte. Das ist Markenbildung zum Wohle des Verlags.

Forderung 10, und jetzt mache ich mich zum Schluss noch endgültig zum Trottel:

Vergessen wir Online

Präzise gesagt: Vergessen wir unsere Website, den Onlinejournalismus. Alles Schnee von gestern.

Bei der hinter mir zitierten Webseite „Huffington Post“ läuft alles über soziale Medien - das ist Gegenwart auch bei vielen anderen Medien in Deutschland. Rund 30 Prozent der Digitalleser des „Nordbayerischen Kuriers“ kommen schon jetzt über Facebook auf unsere Website.

Wenn man aber in die USA schaut, nach Skandinavien oder auch nach Indien (wo es überhaupt kein Breitband-Internet gibt), dann ist dies nur der erste Schritt. In großen Teilen der Welt ist der einzig wesentliche  Kanal für journalistische Inhalte heute Mobile. Auch im Lokaljournalismus. Sogar in Bayreuth sind an den Wochenende über 50 Prozent der Zugriffe mobil, werktags sind es immerhin knapp 40 Prozent.

Aber in spätestens drei, vier Jahren läuft auch bei uns die digitale Mediennutzung zu mindestens 80 Prozent über das Smartphone und meinetwegen noch über den Tablet-PC. In jedem Fall mobil. Und darauf sind wir alle nicht eingestellt.

Wir haben keine Erlösmodelle dafür, aber vor allem haben wir kaum journalistische Konzepte. Um zu überleben, brauchen wir die aber besser heute als gestern.

„Zeitungswebsiten sehen alle gleich aus“

Ob nun mobil oder andere digitale Kanäle, wir müssen aufhören, Zeitung ins Internet pressen zu wollen. Schauen Sie sich Zeitungswebsiten an.

Sie sehen alle gleich aus. Sie transportieren die tradierte Ressorteinteilung ins Netz. Nichtzeitungsleser - und gerade die wollen wir doch digital ansprechen - kennen diese Systematik gar nicht. Wo der Redakteur bestimmt, was wichtig ist und nicht der Leser. Auch das ist nicht mehr zeitgemäß.

Wer wissen will, wie die Zukunft ausschaut, der sieht sich Zeitungswebseiten in Skandinavien an oder Newsseiten in den USA.

vox.com zum Beispiel ist ein Beispiel für eine extrem erfolgreiche Nachrichten-Webseite, die aber nicht von einem Verlagshaus gesteuert ist, sondern eine Neugründung ist, ein Startup. Oder schauen Sie sich fw.com an oder auch die gute, alte „New York Times“. Ob diese Medien den Wandel geschafft haben, wird die Zukunft weisen.

„Von der Zukunft träumen“

Wir haben jedenfalls zu tun, in die Gegenwart zu kommen. Von der Zukunft dürfen wir allenfalls träumen. Aber wir haben eine gute Chance.

Ich zitiere zum Schluss noch einmal Mr. Media Thomas Koch: „Zeitungen geben den Menschen Kraft, wenn es um die Interessen ihrer Leser geht. Sie sind ihr Verbündeter im Kampf um lokale Interessen und lokale Politik. Sie sind das Spiegelbild ihres Lebens. Sie sind auch der Spiegel, den sie ihren Lesern vorhalten. Sie sind eine Instanz. Sie sind die stärkste meinungsbildende Kraft, die ein Medium vor Ort entfachen kann. In dieser Rolle sind sie nicht wegzudenken.“

Dass es so bleibt, dafür sollten wir kämpfen. Denn ohne Zeitungen, ohne professionellen, unabhängigen Journalismus, ist eine Demokratie, wie wir sie kennen, nicht denkbar. Aber das ist ein anderes Thema, eines, das abendfüllend ist.

Joachim Braun

Chefredakteur

Nordbayerischer Kurier

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