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Michael Martens: „Mir PKK-Propaganda vorzuwerfen, ist recht verwegen“

Im Interview mit NEWSROOM wehrt sich Michael Martens gegen Vorwürfe, er habe eine Falschmeldung und PKK-Propaganda verbreitet. Von Bülend Ürük.

Berlin - Der Streit ist entbrannt nach dem Bericht „Falsches Spiel“, der in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ erschienen ist. „Man muss nur die Logik walten lassen“, so Nordhausen, dann wisse man, dass die türkischen, höheren Flüchtlingszahlen realistischer seien als die Zahl in der Reportage von Michael Martens.

NEWSROOM sprach mit Michael Martens, der derzeit für Recherchen in Sarajevo weilt.

 

Michael Martens. Foto: FAZ

 

Herr Martens, Frank Nordhausen, Korrespondent für "Berliner Zeitung" und "Frankfurter Rundschau", wirft Ihnen Propaganda vor, Sie hätten in Ihrem Bericht am Sonntag in der "FAS" eine Falschmeldung verbreitet. Sind Sie auf PKK-Einflüsterer hereingefallen?

Michael Martens: Das Niveau dieser Anschuldigung ist befremdlich und ich frage mich, ob Twitter der richtige Ort dafür ist. Ist es sinnvoll, mit einem axiomatischen 140-Zeichen-Tweet einem Text von weit mehr als dem hundertfachen dieser Länge ohne Angabe von Gegenargumenten vorzuwerfen, er sei Propaganda und eine Falschmeldung? Selbstverständlich kann und soll jeder meine Arbeit kritisieren – aber es wäre schön, wenn dies mit Argumenten geschähe. Das ist vor allem eine Frage des Umgangs, den man miteinander pflegen will.

Gibt es aus Ihrer Sicht überhaupt eine Möglichkeit, eine genaue Zahl der Flüchtlinge zu ermitteln, wenn selbst das UNHCR Zahlen der türkischen Regierung übernimmt?

Michael Martens: Wir alle sind als Journalisten auf offizielle Zahlen angewiesen, denn persönlich nachzählen können wir natürlich nicht. Das bedeutet aber nicht, dass wir in begründeten Fällen nicht Zweifel an den offiziellen Zahlen artikulieren sollten. Das habe ich in diesem Fall getan. Ich behaupte nicht, dass ich die genauen Zahlen kenne. In meinem Text beschreibe ich nur aufgrund eigener Beobachtungen an der Grenze, diverser Interviews und anderer Quellen, warum ich die von der türkischen Regierung sowie in ihrem Gefolge vom UNHCR angegebenen Flüchtlingszahlen für stark übertrieben halte. Man muss mir darin nicht folgen, kann meine Argumentation für lückenhaft oder sogar fehlerhaft halten – sie aber kurzerhand als PKK-Propaganda zu bezeichnen, ist recht verwegen.

 

Zur Person: Michael Martens, Jahrgang 1973, kam 2001 in die Nachrichtenredaktion der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung". Davor war der gebürtige Hamburger unter anderem Redakteur der "St. Petersburgischen Zeitung", der ältesten deutschsprachigen Auslandszeitung. Martens berichtet seit 2009 von Istanbul aus für die FAZ über die Türkei und den Balkan.

 

Was bemängeln Sie denn an den Zahlen Ihres "FR"-Kollegen?

Michael Martens: Ich werde gewiss nicht behaupten, er betreibe Propaganda oder verbreite Falschmeldungen, aber ich erführe gern, wie belastbar die Zahlen sind, die er offenkundig für die einzig richtigen hält. Der Kollege behauptet, „60 Dörfer sind gefallen, das sind mindestens 50.000 Menschen“. Hat er die Dörfer gezählt? Woher stammt die Angabe, dass es 60 Dörfer sind? Über die Zahl der Dörfer gibt es keine Einigkeit. Es gibt türkische  Medien, in denen von 21 kurdischen Dörfern die Rede ist, die vom IS eingenommen wurden. Das muss nicht stimmen – aber stimmt die Zahl von 60 Dörfern?  Eine andere Frage betrifft die Hochrechnung der Einwohnerzahl dieser Orte. Laut kurdischem Wikipedia gibt es in der Region Kobane 321 Dörfer – aber wie groß sie sind, dazu gibt es keine Angaben. Laut den Zahlen des Kollegen müsste jedes der vom IS eroberten 60 Dörfer – immer vorausgesetzt, es sind tatsächlich so viele – mindestens 830 Einwohner haben. Das ist ziemlich viel. Viele der kurdischen Dörfer auf der türkischen Seite der Grenze, die ich gesehen habe, sind viel kleiner. Sind die Dörfer auf der kurdischen Seite so viel größer? Ich weiß es nicht – aber ich behaupte auch nicht, es zu wissen. Der Kollege stellt in der Absicht, meine Argumentation in Zweifel zu ziehen, in der Tat eine wichtige Frage: Wenn 200.000 Menschen in der Region Kobane waren, wo sind sie jetzt? Das ist genau meine Frage. Wenn am ersten oder zweiten Tag der Krise 45.000 Menschen über die Grenze bei Yumurtalik gekommen sind, müsste es Bilder und Videofilme davon geben – aber ich habe bisher keine gesehen. Und in Suruc sieht man diese Massen ebenfalls nicht – genau das beschreibe ich in meinen Artikel.

Mit Michael Martens, Korrespondent der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" mit Dienstsitz Istanbul, sprach Newsroom.de-Chefredakteur Bülend Ürük.

Newsroom.de-Service: Den Artikel "Falsches Spiel", der in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" erschienen ist, gibt es inzwischen auch online bei faz.net.