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Robert Harsieber träumt vom neuen, alten Journalismus

Mehr Zeit zum Hinterfragen, mehr Ruhe für Recherche - und warum der Wiener Philosoph Robert Harsieber die Zunahme von Hobby-Journalisten für den Fluch der gesamten Branche hält.

Wien - 2010 erschien eine Studie "Growth in a Time of Debt" von Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff, die angeblich nachweist, dass Länder mit einem öffentlichen Schuldenstand jenseits der 90-Prozent-Marke in die Armut abgleiten. Seither wird diese Studie exzessiv zitiert.

Immerhin war Kenneth Rogoff Chefökonom des Internationalen Währungsfonds und unterrichtet in Harvard; und laut einem Ranking der US-Notenbank ist Rogoff der elfteinflussreichste Wirtschaftswissenschafter der Welt. Reinhart unterrichtet in Harvard und forscht am renommierten Peterson Institute in Washington. Also kein Grund, dieser Studie nicht zu trauen.

 

Der Wiener Philosoph Robert Harsieber hält in seinem Debattenbeitrag für Newsroom.de die Zunahme von Hobby-Journalisten für den Fluch der gesamten Branche.

 

Doch nun hat ein Student der Wirtschaftswissenschaften an der University of Massachusetts, Amherst, Thomas Herndon, sich mit der Studie beschäftigt und das gemacht, was niemand für der Mühe wert gehalten hat: Er rechnete die Studie nach und kam auf Fehler, die auch einem Laien als ziemlich primitive Fehler erscheinen müssen!

Da wurden Daten unterschlagen, falsch gewichtet und Relevantes nicht in die Studie einbezogen. Fazit: Die Studie der Kapazitäten ist ziemlich wertlos.

Beispiel Neuseeland: Hier wurde nur das Jahr 1951 in der Berechnung berücksichtigt, in dem das Land einen hohen Schuldenstand aufwies und die Wirtschaftskraft (BIP) tatsächlich schrumpfte.

Dass Neuseelands Verschuldung zwischen 1947 und 1949 ebenfalls über 90 Prozent lag, und die Wirtschaft sogar wuchs, wurde einfach ignoriert. Und dass Neuseelands Wirtschaft 1951 so stark schrumpfte, lag auch nicht am hohen Schuldenstand, sondern an einem Streik der Dockarbeiter.

Die studentischen Berechnungen der Daten ergaben einen minimalen negativen – aber statistisch nicht signifikanten – Zusammenhang zwischen Wachstum und Schulden.

Außerdem müsste man wissen, dass zwischen 2000 und 2009 Länder mit einem Schuldenstand über 90 Prozent sogar stärker gewachsen sind als Länder mit einem Schuldenstand zwischen 60 und 90 Prozent.

Doch die Studie ging um die Welt, wurde von Politikern zitiert und zur Grundlage für politische Entscheidungen herangezogen – natürlich ohne sie zu hinterfragen. Und alle Medien wie beispielsweise die "Financial Times" oder das "Wall Street Journal", berichteten über die Studie, ohne sie zu prüfen.

Bleibt also die Frage: Wäre es nicht Aufgabe der (Wirtschafts-)Journalisten, Studien nicht unreflektiert zu übernehmen und zu verbreiten? Müssten Medien nicht eines der notwendigen Korrektive sein?

Journalisten – seien es nun Wirtschafts- oder Medizinjournalisten – müssten zumindest eine Ahnung von Statistik haben, zumindest davon, wie Statistiken (legal oder illegal) geschönt oder gefälscht werden.

Das kommt in den besten Wissenschaftszweigen vor, nicht nur in der Ökonomie, sondern genauso in der Medizin, und gefälscht wird sogar in der Physik. Im Fall der zitierten Studie gingen die gravierenden Fehler sogar der statistischen Berechnung voraus, sodass die Fehler eigentlich hätten auffallen müssen.

Aber das Scheitern kann man nicht den Journalisten anlasten, sondern das „System“ in dem sie leben und arbeiten müssen, ist geprägt von mentaler Korruption, die aus der finanziellen Abhängigkeit kommt.

Heute muss man ja fast schon dafür bezahlen, wenn man in diesem Metier arbeiten und Fuß fassen will.

Ständige Weiterbildung gehört zum Beruf, kann sich aber niemand mehr leisten. Sorgfältige Recherche wird genauso wenig honoriert wie der Hausbesuch des Allgemeinmediziners.

Wer davon leben muss, kann es sich nicht leisten, gründlich zu recherchieren.

Der Beruf wird ohnehin schon von jenen dominiert, die nicht davon leben müssen. Die auch schreiben. Nicht nur das Internet ist eine Spielwiese von Hobby-Journalisten, auch die Verlage sind anscheinend voll davon. Und die zwingen die verbliebenen Profis, zu Hobby-Bedingungen – auch finanziell – zu arbeiten, wenn sie nicht ihren Job verlieren wollen.

Die Kehrseite der Medaille ist: Journalisten haben eine ungeheure Macht – die in Händen von Hobby-Journalisten nicht unbedingt gut aufgehoben ist.

Die suggestive Macht des Banalen, des Oberflächlichen, der Schrebergartenmentalität wird dann zur Erzieherin der Nation, im Schulterschluss mit dem politischen Kleingartenverein.

Ganz besonders gefährlich wird es, wenn der Dilettantismus professionell betrieben wird, wie im Boulevard. Dann muss man sich ernsthaft überlegen, wie aus dieser jahrzehntelangen Gehirnwäsche herauszukommen ist.

Inzwischen können wir von Medien träumen, die Wissen aufbereiten, die informieren und nicht suggerieren, die den blinden religiösen Glauben ebenso infrage stellen wie die ebenso blinde Wissenschaftsgläubigkeit.

Die nicht das Weltbild vorgeben, sondern dazu anregen, sich ein Weltbild zu erarbeiten. Die nicht Meinung unter dem Deckmantel der Objektivität verbreiten (die es nicht gibt), die nicht die Neuronen der gesamten Nation bahnen, sondern zum Selbst-Denken anregen.

Um im obigen Beispiel zu bleiben: Nicht nur die Medien, auch deren Leser könnten zum Korrektiv für derartige unsinnige „Studien“ werden. Es sollte für jeden, oder zumindest für viele, klar sein, dass man zum Beispiel mit evidenzbasierten Studien in der Medizin genauso lügen kann wie am Wirtshaustisch.

Herauskommen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, nannte das Kant in der Zeit der Aufklärung. Auf die sind wir heute so ungeheuer stolz – ohne zu bemerken, dass sie uns eigentlich noch bevorsteht.

Robert Harsieber

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