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„Alle haben uns den Vogel gezeigt“ − Zeitungshype im Osten nach 1989

Die Mauer fällt in Berlin und so ziemlich alles verändert sich im Osten − auch die Presselandschaft. Warum es neue Blätter gab und warum manche Zeitungen ihren Namen aus DDR-Zeiten behielten.

Berlin (dpa) − Als 1989 die Mauer fällt, ist Ingo Schulze 26 Jahre alt. Er arbeitet in einer kleinen Stadt in Thüringen − in Altenburg. Am Landestheater ist er Schauspieldramaturg. Nur wenige Monate später ändert der gebürtige Dresdner seine Pläne und gründet mit Bekannten eine Zeitung. „So eine Idee konnte man, glaube ich, nur damals umsetzen, weil das so illusionär war. Alle haben uns den Vogel gezeigt“, sagt der Bestseller-Autor der Deutschen Presse-Agentur. „Wir wollten der „Spiegel“ und die „Zeit“ für den Landkreis Altenburg sein.»

 

Schulze und seine Bekannten waren Teil eines Trends, den man im Osten nach dem Mauerfall beobachten konnte: Zeitungen wurden neu gegründet. Der Kommunikationswissenschaftler Dirk Arnold von der Freien Universität Berlin erläutert, dass es zahlreiche Neugründungen gegeben habe. Zum Teil seien westliche Verlage daran beteiligt gewesen, aber es gab eben auch solche Initiativen wie die in Altenburg. In der DDR hatte es 1989 fast 40 Tageszeitungen gegeben, die Zahl der Blätter stieg nach dem Mauerfall zunächst an.

 

Von Dauer waren derartige Neugründungen insgesamt gesehen nicht, wie Arnold schildert. Auch im Jahrbuch 1991 des Zeitungsverlegerverbands BDZV heißt es: „In der ersten Euphorie über die selbst errungene Pressefreiheit kam es in vielen Orten zu Versuchen neuer politischer Gruppierungen, sich mit Wochenblättern ein eigenes publizistisches Forum zu verschaffen.“ Und es heißt zugleich, dass fast alle dieser Titel wieder verschwunden seien.

 

Schulzes „Altenburger Wochenblatt“ erschien immer donnerstags. Bis in den November 1991 schafften es die Gründer, auch weil sie etwas später noch ein Anzeigenblatt aus dem Boden stampften, das bis Ende der 1990er Jahre überlebte. Dann war Schluss. Die Wochenzeitung war schnell wieder Geschichte. Schulze sollte später vielbeachtete Romane schreiben und in einem davon − „Neue Leben“ − kommt seine Wochenzeitung nochmals vor. Ein paar Zeitungsausgaben hat er heute noch bei sich zuhause in Berlin.

 

„Wir haben die Zeitung gegründet, um die Demokratisierung der DDR zu begleiten“, erläutert der 57-Jährige. Dann kam es aber anders, die DDR gab es dann bald nicht mehr. Schulze, der erst vor kurzem einen neuen Roman («Die rechtschaffenen Mörder») vorgelegt hat, sagt rückblickend auch: „Es war dieser Versuch, Öffentlichkeit zu erobern. Das war das, was in der DDR so bitter gefehlt hat. Es gab nicht wirklich eine Zeitung, in der frei geschrieben wurde.“ Das habe sich im Herbst 1989 schnell geändert. „Die Zeitungen wurden wahnsinnig interessant. Diese Vielfalt an Zeitungen erscheint heute utopisch.»

 

Kommunikationswissenschaftler Arnold erläutert: „Nach der Wende gab als erstes die SED im Dezember 1989 ihren Monopolanspruch auf die Presse auf und trennte sich von den meisten ihrer Zeitungen.“ Das Einfuhrverbot der West-Presse sei beendet worden. Der Markt veränderte sich.

 

Zu DDR-Zeiten hatte die SED-Partei sogenannte Bezirkszeitungen, die einen großen Anteil an der gesamten Presse ausmachten. Hier stiegen westdeutsche Verlage ein. Wie aus dem BDZV-Jahrbuch 1991 hervorgeht, waren zu dieser Zeit alle diese 14 Zeitungen mit westdeutschen Verlagen verflochten. Einige änderten ihre Titel, andere behielten den Namen aus DDR-Zeiten weiter bei.

 

Ein Beispiel dafür ist die „Lausitzer Rundschau“ (LR) in Cottbus. Und war es nun ein Vorteil oder ein Nachteil, bei dem Zeitungsnamen zu bleiben? Chefredakteur Oliver Haustein-Teßmer sagt der dpa: „Die „Lausitzer Rundschau“ war seit 1946 ein eingeführter Zeitungstitel. Die Leserinnen und Leser mussten sich nicht umgewöhnen, da die Rundschau ja Rundschau blieb. Zugleich haben sie erlebt, wie sich die LR vom Parteiorgan der SED-Bezirksleitung zum demokratischen und kritischen Medium wandelte.“

 

Die neu gewählte Chefredaktion und die Belegschaft entschieden demnach damals, dass der Name Teil der eigenen Vergangenheit sei und dass man dazu stehen sollte. „Ich glaube, dass gerade unsere langjährigen Abonnenten, die sowohl die DDR als auch die neue Bundesrepublik erlebt haben, diese Ehrlichkeit schätzen.“ Zugleich ergänzt Haustein-Teßmer: „Eine Zeitung mit einem Namen, aber zwei Leben hat auch einen Haken. Die LR wird von manchen bis heute als „Lügen-Rudi“ bezeichnet, eine Verballhornung der Abkürzung LR.»

 

Journalist Christian Taubert hat beide Leben der „Lausitzer Rundschau“ miterlebt: Er war bereits zu DDR-Zeiten dort Redakteur und blieb bis zur Rente vor wenigen Jahren. Taubert beschreibt die Situation nach dem Mauerfall so: „Es war eine Stimmung in der Redaktion, die von Euphorie bis Angst reichte. Endlich unabhängig berichten zu können, nicht mehr dem Diktat der Staatspartei SED ausgesetzt zu sein − das war ein Stück Erlösung.“ Aber die Angst, ob die Zeitung den Umbruch schaffen könne, sei Thema vieler Gespräche gewesen.