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Nicht mehr genug Journalisten, um den Schreibtisch zu verlassen

Nicht mehr genug Journalisten, um den Schreibtisch zu verlassen Michael Haller

Viele Redaktionen funktionieren nur mehr als Durchlauferhitzer von Meldungen, die von aufgeblühten PR-Abteilungen produziert werden, anstatt öffentliche Debatten zu führen, sagt Medienforscher Michael Haller im Interview mit "Tichys Einblick".

Berlin - Der Medienforscher Michael Haller sieht die Lokal- und Regionalmedien in Deutschland vor einer existentiellen Krise. Sie hätten in den vergangenen Jahren so stark an Lesern und Auflage verloren, dass sie nicht mehr in der Lage seien, zu einem diskursiven Journalismus zurückzukehren. „Bei den Redaktionen, die umdenken, besteht inzwischen das Problem, dass sie nicht mehr über das Personal verfügen, um den Schreibtisch zu verlassen, um zu den Leuten vor Ort zu gehen und die Probleme zu recherchieren“, schildert Haller, Wissenschaftlicher Direktor des Europäischen Instituts für Journalismus- und Kommunikationsforschung, im Gespräch mit dem Magazin Tichys Einblick. „Sie möchten diskursiver werden, können dies aus Sparzwanggründen aber nicht. Viele Redaktionen funktionieren inzwischen gleichsam als Durchlauferhitzer der Meldungen, die von den in den vergangenen Jahren aufgeblühten PR-Abteilungen der Unternehmen und Behörden produziert werden.“

 

Für den politischen Diskurs sei dies ein Problem: Die Kluft zwischen Lebenswirklichkeit der Bürger und der Politik werde immer größer. „Die Lokal- und Regionalzeitungen sitzen in einer regelrechten Falle. Die große Sorge lautet, dass dieses so wichtige Bindeglied zwischen der lokalen Lebenswelt der Bürgerinnen und Bürger und der großen Politik auf der Strukturebene verloren geht.“ In Ostdeutschland seien die Folgen schon stark sichtbar. „Man sieht seit einiger Zeit in den neuen Bundesländern, wie sich diese Kluft verbreitert, weil die Diskussion der Megathemen einen großen Teil der Bevölkerung gar nicht mehr erreicht.“

 

Leitmedien, wie die überregionalen Tageszeitungen in Deutschland, müssen wieder diskursiv werden und nicht einseitig berichten, wenn sie überleben wollen. Nach Meinung des Medienforschers Michael Haller müssen die großen Tageszeitungen zurückkehren zur „Perspektive des diskursiven Qualitätsjournalismus“ und als Maßstab ihrer Berichterstattung anlegen. „Das gilt insbesondere für den tagesaktuellen Informationsjournalismus, andernfalls macht er sich selbst entbehrlich“, sagte Haller. Die Aufgabe der Leitmedien sei es, die öffentliche Debatte zu organisieren. Und das gehe nur, wenn der Informationsjournalismus „vom Katheder des Besserwissers herabsteigt und sich um den Diskurs kümmert. Hierzu muss er auch systematisch trennen zwischen Information und Meinung. Und er muss die in der Gesellschaft angetroffenen Positionen und Standpunkte thematisieren.“

 

Weil die großen Tageszeitungen diese Rolle aber nicht erfüllen, hätten sich alternative Medien im Internet gebildet, die eine wichtige Rolle einnehmen, weil sie „als Störer die im Diskurs der Leitmedien übergangenen Argumente, Meinungen und Stimmungen artikulieren“, so Prof. Haller. „Hier öffnet sich eine breite Lücke im politischen Meinungsspektrum. In diese Lücke stoßen die alternativen Medien.“

 

Haller ist aber optimistisch, dass auch die Leitmedien ihre Berichterstattung wieder Richtung Vielfalt verändern. „Die Silvesternacht (in Köln, Anm. d. Red.) war der Einbruch der Realität ins Träumerland der universalistisch denkenden Journalisten. Die Informationsmedien konnten nun nicht mehr als Verfechter der Willkommenskultur ihre Gesinnung demonstrieren. Seit Frühjahr 2016 kommen sie verstärkt ihren Berichtspflichten auch über Probleme des Asylbewerberalltags nach.“ Nicht zuletzt, um nicht noch mehr Leser und Auflage zu verlieren und um zu überleben, glaubt Haller, dass sich die Leitmedien weiter öffnen werden.

 

„Für die überregionalen Tageszeitungen und ihre Onlineangebote könnte die Öffnung in Richtung Diskursivität zu einem wichtigen Erfolgsfaktor werden.“ Denn sie hätten inzwischen schon so viel Auflage und Reichweite verloren, dass sich die Leitmedien ausrechnen können, „wann sie vom Markt verschwinden werden“.

 

Das komplette Interview ist in der September-Ausgabe von "Tichys Einblick" zu lesen.