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„Spiegel“ legt Abschlussbericht zur Relotius-Fälschungsaffäre vor

Die 17 Seiten umfassende Analyse wurde am Freitag beim Nachrichtenportal „Spiegel Online“ veröffentlicht, nachdem eine dreiköpfige Kommission den Fall untersucht hatte.

Hamburg (dpa) − Gut fünf Monate nach Bekanntwerden des Fälschungsfalls um den Reporter Claas Relotius hat der „Spiegel“ einen Abschlussbericht zu der Affäre vorgelegt. Die 17 Seiten umfassende Analyse wurde am Freitag beim Nachrichtenportal „Spiegel Online“ veröffentlicht, nachdem eine Kommission den Fall untersucht hatte.

„Die gute Nachricht: Es wurden keine Hinweise darauf gefunden, dass jemand im Haus von den Fälschungen wusste, sie deckte oder gar an ihnen beteiligt war“, schrieben Chefredakteur Steffen Klusmann und Verlags-Geschäftsführer Thomas Hass.

Sie gaben zu, dass sich der „Spiegel“ von Relotius habe einwickeln lassen und in einem Ausmaß Fehler gemacht habe, das gemessen an den Maßstäben des Verlages unwürdig sei. Nachdem es bereits personelle Konsequenzen gegeben habe, soll künftig eine unabhängige Ombudsstelle eingerichtet werden, die möglichen Hinweisen auf Ungereimtheiten in Beiträgen nachgehen soll. Außerdem will der „Spiegel“ seine Recherche-, Dokumentations- und Erzählstandards überarbeiten.

Der „Spiegel“-Verlag in Hamburg hatte die Fälschungen im Dezember 2018 öffentlich gemacht. Dem „Spiegel“ zufolge waren seit 2011 rund 60 Texte im Heft und bei „Spiegel Online“ erschienen, die der Journalist geschrieben hat oder an denen er beteiligt war. Darin hatte Relotius zum Teil Protagonisten und Szenen erfunden. Er gab mehrere Journalistenpreise zurück, oder sie wurden ihm entzogen. Laut „Spiegel“ hat Relotius Gesprächsanfragen bisher abgelehnt.

Die Kommission bestand aus der freien Journalistin und früheren Chefredakteurin der „Berliner Zeitung“, Brigitte Fehrle, dem kommissarischen Blattmacher Clemens Höges und dem „Spiegel“-Nachrichtenchef Stefan Weigel. Das Trio hat Gespräche geführt, Mails ausgewertet und ist Hinweisen aus der Redaktion und von außerhalb nachgegangen.

Grundsätzlich trage Relotius für seine Texte Verantwortung, schreiben die Autoren in dem Bericht. „Er ist Täter.“ Und: „Um die Aufdeckung von Fälschungen zu verhindern, hat Relotius erheblichen Aufwand betrieben.“ Gleichzeitig hätten „seine Beliebtheit und seine Art der Kommunikation“ in Dokumentation und Redaktion „zu mangelnder kritischer Distanz gegenüber seinen Texten“ geführt. Seine Vorgesetzten hätten Relotius bewundert und absolutes Zutrauen zu ihm gehabt.

Dennoch habe es im Haus drei deutliche Warnungen vor Fälschungen gegeben. „Jede davon hätte Relotius stoppen können − zumindest theoretisch“, heißt es weiter. Dennoch war zwei Wochen nach einem ersten Hinweis des Reporters Juan Moreno noch eine Titelgeschichte erschienen, für die Relotius Einstieg, Schluss und Mittelpassage über die Pazifikinsel Kiribati geschrieben hatte. Relotius sei aber nicht auf der Insel gewesen, „sein Text war gefälscht“. Moreno hatte Relotius schließlich auffliegen lassen.

Obwohl die Kommission „keinen weiteren Claas Relotius“ gefunden habe, ist sie auf weitere Fälschungen gestoßen. So konnte sie aufdecken, dass ein wegen Fälschungen in Geschichten aufgeflogener Autor eines anderen Magazins auch 43 Texte für den „Spiegel“ geschrieben hatte. Der Großteil davon sei weitgehend in Ordnung gewesen, „zwei Geschichten wurden aber massiv verfälscht“.

Außerdem heißt es in dem Bericht, dass die Kommission „etliche Hinweise“ erhalten habe, „dass manche „Spiegel“-Kollegen in ihren Texten nicht immer journalistisch korrekt arbeiten. Es handelt sich dabei ausdrücklich nicht um Fälschungen, sondern in der Regel um Verfälschungen.»

Beim „Spiegel“ war im Frühjahr als eine Konsequenz aus dem Fall die Besetzung von Führungspositionen umgeplant worden. Für den als Mitglied der Chefredaktion vorgesehenen Ullrich Fichtner, der nun unter anderem „große Projekte“ vorantreiben soll, rückte Clemens Höges in die Führung auf. Der designierte Blattmacher Matthias Geyer gab die Leitung des Gesellschaftsressorts ab und ist nun für Textqualität zuständig. Fichtner und Geyer galten als Förderer von Relotius.

Der Fälschungsfall hatte in der Medienbranche eine Diskussion um Glaubwürdigkeit und Transparenz im Journalismus ausgelöst. Als Konsequenz auch aus anderen Fälschungsfällen hat die Wochenzeitung „Die Zeit“ Recherche-Standards und Regeln festgelegt, an die sich alle Autoren halten müssen.

Auch „Spiegel“-Chefredakteur Klusmann und Verlags-Geschäftsführer Hass versprachen ein neues journalistisches Regelwerk für ihr Haus. „Wenn all das den „Spiegel“ besser macht, stellen sich die Betrügereien von Claas Relotius rückblickend betrachtet vielleicht als heilsamer Schock heraus“, schrieben sie. Der Abschlussbericht der Aufklärungskommission soll auch in der am Samstag erscheinenden Druckausgabe veröffentlicht werden.

 

„Der Abschlussbericht des „Spiegel“ sollte in jedem Fall Pflichtlektüre für alle Redaktionen in Deutschland sein, weil er Fallen aufzeigt, über die auch andere Medien stolpern können“, erklärte Frank Überall, Bundesvorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbands. Dies betreffe etwa den Umgang mit Kritik von innen wie außen oder die Versuchung, Recherchen vom erhofften Ergebnis her zu planen. Die von der Untersuchungskommission erarbeiteten Veränderungsvorschläge schätzte Überall positiv ein. „Journalistische Standards müssen immer wieder neu diskutiert, nachgeschärft und mit Leben gefüllt werden. Der „Spiegel“ nimmt sich hier viel vor.“