Multimedia
KNA/Florian Bayer, Red/Georg Taitl

Online-Medium „Jetzt“ will den Journalismus neu erfinden

Online-Medium „Jetzt“ will den Journalismus neu erfinden Hatice Akyün, Chefredakteurin von „Jetzt“ (Foto: Meiko Herrmann)

Nach einer holprigen Kampagne ist das Mitgliedermedium „Jetzt“ mit 5.900 Abonnentinnen und Abonnenten an den Start gegangen. Kann sich das Konzept am schwierigen österreichischen Medienmarkt durchsetzen? Chefredakteurin Hatice Akyün über Haltung, Audiojournalismus und Orientierung in der Nachrichtenflut.

Wien (KNA) – Österreich hat ein neues Online-Medium. Nach über einem Jahr Kampagne und Mitgliedersuche ist am 4. November das Projekt „Jetzt“ gestartet. Auf der Website sowie in der App soll es einen morgendlichen Nachrichtenüberblick sowie täglich ein bis zwei größere Texte geben. Außerdem werden alle Texte vom jeweiligen Autor selbst als Audio vorgelesen. Zu den inhaltlichen Schwerpunkten war bis zuletzt jedoch nichts bekannt. Die rund 5.900 „Mitglieder“ – so heißen die Abonnentinnen und Abonnenten bei „Jetzt“ – haben die Katze im Sack gekauft.


An den Start ging das Projekt mit zwei Texten: einer Recherche unter Beteiligung des Investigativjournalisten Christo Grozev über einen mutmaßlichen russischen Agenten, der mit gefälschtem Pass Techniken zur Aufbereitung von Trinkwasser ausspioniert haben soll und deswegen vom österreichischen Verfassungsschutz beobachtet wird. Und einer Abhandlung zur Frage „Lohnt es sich, Kinder zu kriegen?“. Der Text von Michalis Pantelouris, der unter anderem auch für das „SZ-Magazin“ schreibt, bietet keine wirklich neuen Perspektiven, ist aber leicht konsumierbare Kost.
Dienstagfrüh erschien zudem der erste „Morgenüberblick“, der künftig von Montag bis Freitag den Start in den Tag erleichtern soll. In der ersten Ausgabe gibt es Eigenwerbung, gefolgt von Nachrichten über Schwierigkeiten am österreichischen Arbeitsmarkt bis hin zur Bürgermeisterwahl in New York – keine Überraschungen also.


Wenig Online-Zahlbereitschaft
Ob dieses Angebot die derzeit 5.900 zahlenden Mitglieder – Kostenpunkt: 18 Euro pro Monat – dauerhaft überzeugen kann, bleibt abzuwarten. Österreich gilt als hochkonzentrierter und schwieriger Medienmarkt. Kaum eine Neugründung konnte hier bislang reüssieren. Die Zahlungsbereitschaft für Online-Abos ist zudem im Vergleich zu anderen Ländern besonders gering, wie der Digital News Report des Reuters Institute der Universität Oxford belegt.


Dies liegt unter anderem an der Stärke der etablierten Medienhäuser, von ORF über „Kronen Zeitung“ bis hin zu den großen Regionalzeitungen. Aber auch die im Vergleich zu Deutschland üppigen staatlichen Förderungen spielen eine Rolle – sie bevorzugen klar die etablierten Player im Markt.
Chefredakteurin von „Jetzt“ ist Hatice Akyün, die zuvor als freie Journalistin unter anderem für den „Spiegel“ und die „Süddeutsche Zeitung“ geschrieben hat und Kolumnistin beim Berliner „Tagesspiegel“ ist. Mit dem Projekt „Jetzt“ wolle man „Orientierung bieten und ein sicherer medialer Hafen sein“, sagt Akyün. Wichtig sei dabei der Austausch mit der Community – vor allem im Kommentarbereich unter jedem Artikel, wo Klarnamenpflicht herrscht.


„Journalistische Haltung, aber Mut zum Persönlichen“, beschreibt Geschäftsführer und Gründer Florian Novak das Konzept von „Jetzt“. Man habe „keine Chronistenpflicht“, sondern wolle eigene Schwerpunkte setzen, sagt Novak, der 1997 das Wiener Lokalradio Radio Energy Vienna und später den Sender Lounge FM gründete. Novak und Akyün betonen die Rolle von Audio für „Jetzt“ – alle Texte sollen neben der schriftlichen Form auch „erzählt, nicht nur vorgelesen“ werden.


In Dänemark erfolgreich
Erklärtes Vorbild ist das dänische Online-Magazin Zetland, das bereits 2012 nach demselben Konzept gegründet wurde und mittlerweile mehr als 50.000 Mitglieder hat. Als Technologiepartner von Zetland bezahlt „Jetzt“ eine Art Franchisegebühr für den Österreich-Ableger der App. Zum Start stehen alle Texte hinter einer Paywall. Von zahlenden Mitgliedern geteilte Artikel sollen jedoch auch von anderen gelesen und angehört werden können.


Die zwölfköpfige „Jetzt“-Redaktion sitzt im Wiener Funkhaus, wo bis vor wenigen Jahren die ORF-Radios Ö1 und FM4 ansässig waren. Sich ausgerechnet hier anzusiedeln, kann als selbstbewusstes Statement verstanden werden. Kämpferisch war auch die Ansage zum Start der „Jetzt“-Kampagne: „Wir sind überzeugt, dass Österreich dieses Medium braucht, denn seriöser Journalismus ist das Fundament unserer Demokratie. Wenn es diesen seriösen Journalismus nicht mehr gibt, muss man ihn neu erfinden“, hieß es zu Beginn der Mitgliederwerbung.


Die ersten Monate verliefen allerdings holprig. Die Mitgliedersuche zog sich – trotz prominenter Unterstützerinnen und Unterstützer. Auch viele Medien berichteten von Anfang an über die neue Konkurrenz, meist wohlwollend-neugierig. Sogar die auflagenstarke „Kronen Zeitung“ – allerdings im Zusammenhang mit dem liberalen Politiker Sepp Schellhorn, der ebenfalls für „Jetzt“ warb. Da begannen manche Sympathisanten zu zweifeln, ob Unabhängigkeit wirklich so großgeschrieben wird wie behauptet. Immerhin: Hunderttausende erfuhren so von der Existenz des neuen Mediums.


Abo-Kampagne verlängert
Trotz der Aufmerksamkeit wäre die monatelange Mitgliederkampagne beinahe gescheitert und musste verlängert werden, um das selbstgesteckte Ziel von 5.000 Abos zu erreichen. Als diese Marke zunächst verfehlt wurde, ließ man die bereits gewonnenen Mitglieder abstimmen, ob die Kampagne verlängert werden solle. Die Mehrheit votierte dafür – und nach einigen zusätzlichen Wochen wurde das Ziel schließlich doch erreicht.


Bei der Eigenwerbung griff „Jetzt“ allerdings auch zu fragwürdigen Methoden: Geworben wurde mit einem Handyscreen-Sujet, das einen Text von Pulitzer-Preisträgerin Anne Applebaum, auf Deutsch übersetzt, als eigenen ausgab – versehen allerdings nicht mit ihrem Namen, sondern mit dem eines „Lukas Hofer“. Als „Profil“-Chefredakteurin Anna Thalhammer dies aufdeckte, reagierte das neue Medium patzig: „Hätte uns auffallen sollen. Bitte tun Sie aber nicht so, als hätte ‚Jetzt‘ ein Plagiat publiziert.“


Schwierig gestaltete sich auch die Suche nach einer Chefredakteurin. Im Januar 2025 hieß es zunächst, Elisalex Henckel von Donnersmarck werde die Redaktion anführen. Sie war nach Stationen bei „Welt“ und „NZZ“ jahrelang Chefredakteurin des anerkannten Wiener Monatsmagazins Datum. Innerhalb der Medienbranche galt die Personalie als Coup. Im Juli wurde jedoch bekannt, dass sich Henckel von Donnersmarck wegen „unterschiedlicher Einschätzungen“ mit den Machern des Projekts überworfen hatte. Erst Ende September wurde Hatice Akyün als neue Chefredakteurin präsentiert – sie zog für den Job eigens von Deutschland nach Wien.


Laut eigenen Angaben erhält Jetzt zwar keine klassische Presseförderung, aber eine Förderung der Stadt Wien. Auch anderen Förderungen zeigte sich Geschäftsführer Novak aufgeschlossen. Langfristig will sich das neue Medium aber rein über zahlende Mitglieder finanzieren. "Die Redaktion muss wachsen, um den Workload zu stemmen", sagt Novak. Die 5.000 Mitglieder zum Start seien dabei bloß das Fundament. Ob Jetzt langfristig bestehen kann, werden wohl schon die kommenden Wochen und Monate zeigen.

 

Hatice Akyün über Haltung, Audiojournalismus und Orientierung in der Nachrichtenflut

Glückwunsch zur neuen Position – was reizt Sie an „Jetzt“?
Hatice Akyün: Vielen Dank. Es hat tatsächlich nicht lange gedauert, mich für „Jetzt“ zu entscheiden. Gereizt hat mich zum einen, ein neues Medienformat von Anfang an mit aufzubauen. Ein Medium zu schaffen, das nicht mit Nachrichten bombardiert und sich auf das Wesentliche fokussiert, macht für mich den größten Reiz aus.
 
Wie viel Haltung verträgt ein journalistisches Projekt wie „Jetzt“ – und wie viel braucht es?
Haltung ist die Grundvoraussetzung für guten Journalismus. Aber wichtig ist, dass die Grenze zwischen Haltung und Meinung nicht verwischt. Ich finde, dass sowohl im Journalismus als auch in der Politik zu viele eine Meinung haben. Wir bei „Jetzt“ werden komplett auf Meinungsjournalismus verzichten.
 
Welche Art von Geschichten wollen Sie bei „Jetzt“ sehen – und hören?
Selbst uns Profis fällt es manchmal schwer, in der Vielzahl von Nachrichten den Überblick zu behalten und uns auf Themen zu konzentrieren, die mehr sind als Eintagsfliegen. Wir wollen dabei helfen, mit unserem Journalismus Orientierung zu geben, indem wir Dingen auf den Grund gehen. Mein journalistischer Mentor Cordt Schnibben sagte mir einmal: „Eine gute Reportage ist wie ein Labyrinth ohne Fenster und Türen, sie hat mich hereingelockt und gibt mir nur eine Chance, ihr zu entkommen, am Ende des letzten Satzes.“ Ich glaube, dieser Satz fasst ganz gut zusammen, was ich bei „Jetzt“ lesen und hören möchte.
 
Zum ganzen Interview

 

 

Sie möchten aktuelle Medien-News, Storys und Praxistipps lesen – und sich über Jobs, Top-Personalien und Journalistenpreise aus Deutschland informieren? Dann abonnieren Sie jetzt unseren kostenlosen Newsletter.

Sie haben Personalien in eigener Sache oder aus Ihrem Medienhaus? Oder ist Ihnen in unseren Texten etwas aufgefallen, zu dem Sie sich mit uns austauschen möchten? Dann senden Sie Ihre Hinweise bitte an georg.taitl@oberauer.com.