Multimedia
dpa

Verlagschef Wolfgang Blau: EU muss Sprachbarrieren beseitigen

Verlagschef Wolfgang Blau: EU muss Sprachbarrieren beseitigen Wolfgang Blau. Foto: Gabriella Karney

Im Internet wird vor allem Englisch oder Chinesisch gesprochen. Wer Inhalte oder Produkte auf Deutsch anbietet, erreicht damit selbst in Europa nur einen Bruchteil der Verbraucher. Dies lässt sich aber ändern, meint ein Experte.

Wien (dpa) − Der Verlagschef und Digitalexperte Wolfgang Blau hat die Europäische Union aufgefordert, eine Milliarde Euro in die Entwicklung maschineller Übersetzungen zu investieren. „Die Sprache beziehungsweise der fragmentierte Sprachraum ist der eigentliche Flaschenhals des europäischen Binnenmarkts und auch journalistisch das größte Hindernis für das Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit“, sagte Blau in einem Interview der Deutschen Presse-Agentur. Der President von Condé Nast International in London ist einer der Hauptredner bei der Medienkonferenz „Challenging (the) Content“ am Montag und Dienstag in Wien, organisiert vom österreichischen EU-Ratsvorsitz.

 

Der digitale öffentliche Raum wird von den großen US-Plattformen dominiert. Der ARD-Vorsitzende Ulrich Wilhelm hat deshalb vorgeschlagen, eine Art europäisches YouTube als Gegengewicht aufzubauen. Unterstützen Sie das?
Die erfolgreichsten Start-ups beginnen in der Regel damit, dass sie eine fast intuitiv verständliche Antwort auf ein bisher unbefriedigtes Nutzer-Bedürfnis finden. Das von Herrn Wilhelm skizzierte europäische YouTube oder Netflix entspringt jedoch eher dem Leidensdruck der Inhalte-Anbieter als dem der Konsumenten. Ich teile seine Sorge um Europas kulturelle Souveränität, glaube aber, dass es nicht genügen würde, ein europaweites Inhalteangebot zu schaffen und dann noch leistungsfähige Suchfunktionen, Empfehlungs-Algorithmen und andere Nutzerfunktionen zu entwickeln, die uns von den gängigen Social-Media-Plattformen vertraut sind.

 

Warum nicht?
Es gibt in der Europäischen Union 24 offizielle Sprachen. Keine dieser Sprachen erreicht mehr als 20 Prozent der EU-Bevölkerung, wenn sie diese in ihrer jeweiligen Muttersprache erreichen wollen. Im Englischen als der am häufigsten gesprochenen Zweitsprache erreichen Sie etwa die Hälfte der EU-Bevölkerung, mehr aber nicht. Was Europa deshalb noch dringender braucht als zusätzliche Suchmaschinen, Social-Media-Plattformen oder Inhalte-Plattformen ist eine große Investition in „machine translation“, also maschinelle Übersetzung. 

 

Das heißt?
Natürlich wäre es besser, Europa würde auch über eigene, weltweit nachgefragte Suchmaschinen und Social-Media-Plattformen verfügen. Statt jetzt aber eine extrem kostspielige Aufholjagd mit äußerst ungewissem Ausgang zu fordern, scheint es mir strategisch sinnvoller, die Frage zu stellen, für welches bisher noch ungelöste Problem der digitalen Ökonomie Europa prädestiniert wäre, die Lösung zu entwickeln. (...) Europa sollte dem Internet noch die fehlende Übersetzungsschnittstelle anbieten. 

 

Die Europäische Kommission sollte das vorantreiben?
Ja, und zwar nicht nur mit 100 oder 200 Millionen Euro. Die EU sollte die Entwicklung maschineller Übersetzung zu einem ihrer sogenannten FET-Flagship-Projekte machen, die in der Regel über zehn Jahre hinweg mit einer Milliarde Euro gefördert werden. Wenn Sie beispielsweise eine E-Commerce-Website in Deutschland oder in Kroatien produzieren, könnten Sie technisch zwar den ganzen schönen europäischen Binnenmarkt abdecken, sprachlich werden Sie ihn aber nicht erreichen. In der sprachlichen Fragmentierung und nicht nur am Mangel von Risikokapital liegt ein wichtiger Grund, warum so viele europäische Start-ups eben doch lieber erst versuchen, in Amerika zu wachsen statt in Europa. 

 

Lohnt sich denn der Aufwand? Die Betriebssprache des Internets ist nun mal Englisch. Und die meisten Europäer können doch Englisch.
Das können sie leider nicht. Deutschland hat einen in der EU ungewöhnlich hohen Anteil an Menschen, die Englisch können. Mit Englisch als Erst- oder Zweitsprache erreichen Sie nach Erhebungen der Europäischen Kommission aber bestenfalls die Hälfte der EU-Bevölkerung. Und es ist eine Sache, im Urlaub ein bisschen Englisch zu sprechen, eine andere, dem eigenen Englisch genügend zu vertrauen, um auch auf einer englischsprachigen E-Commerce-Site einen Einkauf zu tätigen. Da geht's dann ums Geld − da will man keinen Fehler machen.

 

Aber spätestens in 10 oder 20 Jahren werden wohl fast alle Europäer Englisch sprechen können.
Selbst wenn das so wäre, was ich aber für fraglich halte, kann Europa es sich nicht leisten, darauf nun 10 oder 20 Jahre zu warten. Außerdem: Ist das denn wünschenswert? Wollen wir unsere Sprachenvielfalt nicht beschützen? Es gibt ja auch schon den Begriff der digitalen Ausrottung vieler kleinerer Sprachen in Europa, weil es sich für viele Softwarehersteller und Inhalte-Anbieter nicht lohnt, Sprachversionen für diese kleineren Länder oder Sprachräume anzubieten. Maschinelle Übersetzung kann dem Fortbestand dieser Sprachen helfen (...) und muss auch weit über reine Text-Übersetzungen hinausgehen. 

 

Zum Beispiel?
Stellen Sie sich vor, ich wäre Italiener oder Portugiese. Wir halten es heute noch für unvorstellbar, dass ich dieses Gespräch dann mit Ihnen auf Italienisch führe und Sie das aber nicht merken würden, weil Sie mich auf Deutsch hören würden. 

 

Übersetzungsprogramme gibt es ja schon.
Ja, aber sie sind nicht gut genug und nicht schnell genug. Die Sprache beziehungsweise der fragmentierte Sprachraum ist der eigentliche Flaschenhals des europäischen Binnenmarkts und auch journalistisch das größte Hindernis für das Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit. Die EU-Kommission hofft auf einen europäischen digitalen Binnenmarkt in einer Größe von bis zu 415 Milliarden Euro jährlich. Diesen mit maschineller Übersetzung zu unterstützen und zu entfesseln ist ein riesiges und lohnendes Investitionsprojekt, vergleichbar mit dem europäischen Airbus-Projekt. 

 

Was passiert, wenn Europa das nicht macht?
Das würde nicht heißen, dass es dann niemand macht. Ohne so eine EU-Initiative würde die technologische Hoheit über maschinelle Übersetzung dann aber höchstwahrscheinlich an China oder die USA gehen. Europas digitale öffentliche Sphäre gehört de facto den amerikanischen Plattformen. Wollen wir, dass Europas zukünftige Übersetzungsschnittstelle zwischen seinen 24 offiziellen Sprachen China oder ebenfalls dem Silicon Valley gehört? 

 

Maschinelle Übersetzung würde an der großen Dominanz der US-Plattformen Google, Facebook und Amazon nichts ändern, oder?
Vermutlich nicht, aber es würde die Sichtbarkeit europäischer Inhalte und die digitale Auffindbarkeit und Verfügbarkeit europäischer Dienstleistungen dramatisch erhöhen. 

 

ZUR PERSON: Wolfgang Blau (50) war von 2008 bis 2013 Chefredakteur von „Zeit Online“, anschließend Direktor Digitalstrategie und Mitglied der Geschäftsführung bei der britischen Tageszeitung „Guardian“. Der gebürtige Stuttgarter ist seit 2017 President von Condé Nast International («Vogue“ u.a.) mit Sitz in London.