Politik
B.Ü.

"Warum nehmt ihr alle Flüchtlinge auf?"

"Warum nehmt ihr alle Flüchtlinge auf?" Osamah Ali Hamad und Emanuel Beer.



Der Syrer Osamah Ali Hamad war Journalist im Nahen Osten und floh vor dem Krieg. Seit einem Monat lebt er in Thüringen und hat für Newsroom.de mit seinem deutschen Kollegen Emanuel Beer, Chefredakteur vom "Allgemeinen Anzeiger" in Erfurt, gesprochen.

Erfurt - Zur Person: Osamah Ali Hamad, 29, stammt aus Daraa in Syrien. Er arbeitete als Journalist für das Forbes-Magazin Middle East und einen syrischen Oppositionssender, der abgeschaltet wurde. Emanuel Beer, 36, ist Chefredakteur und Prokurist vom „Allgemeinen Anzeiger“ in Erfurt (Mediengruppe Thüringen/Funke Mediengruppe). Beer unterrichtet seit mehr als zwei Monaten ehrenamtlich Deutsch für Flüchtlinge. Das Gespräch wurde im Original in Englisch geführt.


Emanuel, eigentlich wollten wir uns heute über deinen Deutschunterricht und deine Erfahrungen mit Flüchtlingen unterhalten. Ich bin immer noch schockiert über die furchtbaren Attentate in Paris und weiß nicht, ob das jetzt der richtige Zeitpunkt ist.


 

Emanuel Beer: Ich denke, der Zeitpunkt ist so richtig wie jeder andere. Denn die Flüchtlingssituation hat nichts mit den Attentaten zu tun. Das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Die Terrororganisation "IS" will uns das vielleicht glauben machen und die Flüchtlinge so diskreditieren. Unsere Willkommenskultur ist ihr großer Feind, denn sie nimmt ihnen die Möglichkeit, Menschen radikalisieren zu können. Für mich gilt deshalb nach wie vor: Wir müssen alles dafür tun, die Flüchtlinge zu integrieren, wir müssen sie begleiten, ihnen beistehen und helfen. Dann hat der Terror, vor dem sich Europäer wie Flüchtlinge gleichermaßen fürchten, keinen Erfolg.


Ich bin trotzdem sehr besorgt. Nach Paris haben die Deutschen vielleicht Angst vor den Flüchtlingen und glauben, dass es keine gute Entscheidung war, sie aufzunehmen. Was denkst du?

Emanuel Beer: Ich denke, der "IS" möchte genau diesen konstruierten Zusammenhang in unsere Köpfe pflanzen. Aber Fakt ist doch: Die Flüchtlinge sind keine Täter, sondern Opfer, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben zu uns kommen. Eine Relation zu Terroristen herzustellen, halte ich für gefährliche Gehirnwäsche. Deshalb denke ich, der Zeitpunkt für unser Gespräch ist so richtig wie jeder andere.

 

Gut, du bist Chefredakteur und hast sicher viel zu tun. Warum unterrichtest du in deiner Freizeit noch Flüchtlinge?

Emanuel Beer: Ich habe mich gefragt, wie ich am besten helfen kann. Und ich habe in der Erstaufnahme gefragt, was sich die Flüchtlinge wünschen. Deutschunterricht stand weit oben auf der Liste. Also habe ich einfach mal angefangen und nach und nach sind weitere Freunde mit eingestiegen. Sprache ist der Schlüssel zur Integration. Das sehen die allermeisten Flüchtlinge genauso. Ich finde, der Unterricht ist auch für mich persönlich eine große Bereicherung. Ich habe viel gelernt.

 

Was hast du denn gelernt?

Emanuel Beer: Ich habe festgestellt, dass sich auch bei mir ein paar Vorurteile eingeschlichen hatten. Also habe ich offen gefragt, was mich bewegte. Ich wollte verstehen, wie die Flüchtlinge denken, warum sie hier sind, worauf sie hoffen. Sie kommen aus einem anderen, für mich fremden Kulturkreis. Bevor ich mir über diesen eine Meinung bilde, sollte ich mir die Zeit nehmen, ihn kennenzulernen. Und akzeptieren, dass andere Menschen in anderen Ländern mit anderen Werten und Vorstellungen aufwachsen. Das muss ich nicht alles gut finden, sollte die Menschen dafür aber nicht verurteilen. Dazu kommt: Mit dem Unterricht kann ich den Menschen etwas direkt geben und nicht nur darüber berichten.

 

Das heißt, mit dem persönlichen Kontakt hat sich das Bild verändert, das du von Flüchtlingen hattest?

Emanuel Beer: Ganz klar: ja. Und deshalb denke ich, dass sich alle – insbesondere aber Journalisten – stärker engagieren sollten, um das Thema „Flüchtlingskrise“ besser zu verstehen. Unser Job ist es doch, Nachrichten zu gewichten, einzuordnen und zu kommentieren. Dafür müssen wir aber im Thema stehen. Also sage ich mal ganz plakativ: Rein in die Unterkünfte und den Menschen zuhören. Ich ärgere mich immer wieder, wenn ich Artikel oder Kommentare lese, die unter dem Vorwand erscheinen, Sorgen und Ängste der Deutschen ernst zu nehmen, die aber auch nur Vorurteile transportieren. Das ist scheinheilig. Wer die Sorgen wirklich ernst nimmt, der prüft, ob sie überhaupt berechtigt sind. Ich persönlich glaube, dass die meisten Ängste unbegründet sind und sich einige Experten, Politiker oder Kommentatoren vermutlich noch nie länger als eine Presseterminlänge ganz persönlich mit den Flüchtlingen und ihrer Situation auseinandergesetzt haben.

 

Du meinst also, die Deutschen sollen zuerst auf die Flüchtlinge zugehen? Nicht andersherum?

Emanuel Beer: Ja. Ich kann verstehen, wenn Menschen vor etwas Neuem und Fremdem Angst haben. Das ist doch überall auf der Welt gleich. Es liegt an uns, diese Ängste abzubauen. Natürlich gehören zu einer Begegnung immer zwei Menschen, die einander zuhören. Ist das bei den Flüchtlingen untereinander nicht ähnlich? Ich habe gemerkt, dass es am Anfang Schwierigkeiten in der Unterkunft gab, was das Zusammenleben beispielsweise von Syrern und Afghanen betrifft…

 

Ja, das ist richtig. Da treffen unterschiedliche Mentalitäten aufeinander. Aber es ist jetzt – nach einiger Zeit – besser.

Emanuel Beer: Wie ist das gekommen?

 

Wir brauchten einfach Zeit. Wir haben angefangen, uns zu unterhalten und zu verstehen, dass wir alle in der gleichen Situation sind.

Emanuel Beer: Das ist doch das beste Beispiel, wie Integration gelingen kann: Miteinander reden, um Ängste und Vorurteile abzubauen. Sich Zeit nehmen, einander zu verstehen.


Ich frage mich trotzdem: Warum nehmt ihr alle Flüchtlinge auf?

 

Emanuel Beer: Darauf habe ich nur eine persönliche Antwort: Die Flüchtlinge sind in einer großen Notlage. Sie kommen aus Kriegsgebieten oder können sich und ihre Kinder nicht ernähren. Deutschland dagegen ist ein friedliches und reiches Land. Es ist nicht nur eine menschliche Geste, sondern auch unsere Pflicht, denen zu helfen, die in Not sind. Wären wir in einer Notsituation, würden wir uns von anderen das Gleiche wünschen.

 

Zurück zum Deutschunterricht. Aus Sicht der Flüchtlinge: Ist es eine gute Idee, wenn sie von einem Journalisten unterrichtet werden und nicht von einem Lehrer?

Emanuel Beer: Ich finde es eine gute Idee, wenn Flüchtlinge in Deutsch unterrichtet werden. In meinem Fall reden wir von einer Erstaufnahmestelle. Für die Menschen dort gab es bis vor ein paar Wochen keine Förderung – also auch keinen Unterricht. Es sei denn, es fanden sich freiwillige Helfer. Mir ging es um spontane Hilfe, denn Sprache ist mein Beruf. Um Grundlagen zu vermitteln, muss man ja auch kein Pädagoge sein. Jetzt fördert die Arbeitsagentur den Basisunterricht auch für Flüchtlinge in Erstaufnahmestellen. Findet sich ein Bildungsträger, gibt es auch richtige Fremdsprachenlehrer und intensive Kurse. Aktuell habe ich eine Gruppe mit afghanischen Flüchtlingen, für sie gilt die Förderung nicht. Sie sind weiter auf ehrenamtlichen Unterricht angewiesen.

 

Warum werden sie nicht gefördert?

Emanuel Beer: Amtsdeutsch heißt das "Bleibewahrscheinlichkeit". Sie ist bei Afghanen geringer als zum Beispiel bei Syrern. Mehr als 50 Prozent der Flüchtlinge aus Afghanistan bekommen kein Asyl. Es gibt in dieser schwierigen Situation keine Gerechtigkeit. Trotzdem ist es unsinnig, jemandem aufgrund einer Hypothese den Zugang zu intensivem Deutschunterricht nicht zu ermöglichen. Was ist denn mit den 50 Prozent, die bleiben dürfen? Natürlich haben mich einige Afghanen aus meiner Gruppe gefragt, warum sie nicht gleichgestellt sind. Sie sehen ihre ganz persönliche Situation, nicht die politische Einschätzung. Ein junger Mann erzählte mir zum Beispiel von seinem Bruder und dessen Kindern, die bei einem Angriff getötet wurden. Jetzt musste ich also diesem Mann erklären, dass er nur eine 50-prozentige Chance auf Asyl und deshalb bis zu einer Entscheidung keinen Anspruch auf intensiven Unterricht hat. Er hat sich für mein Engagement bedankt und gesagt: "Du bist ein guter Mensch, ich denke an dich, wenn ich wieder in Afghanistan bin." Da fehlten mir die Worte.

 

Für dich ist es also nicht entscheidend, ob jemand bleiben darf oder nicht?

Emanuel Beer: Genau. Es geht ja nicht nur um die Sprache, sondern auch um die Kultur und das Verständnis füreinander. Ich fände es gut, wenn wir versuchen, alle wie Menschen zu behandeln. Egal woher sie kommen und wohin sie gehen.

 

Bevorzugst du als ehrenamtlicher Lehrer einen formellen Umgang?

Emanuel Beer: Ich bin prinzipiell nicht so der formelle Typ. Wir duzen uns. Es ist insgesamt ein freundschaftlicher Umgang. Der Kontakt zu meiner ersten Gruppe war intensiv, wir haben uns sehr viel unterhalten, Tischtennis gespielt, gemeinsam gegessen und gelernt. Zu einigen habe ich noch Kontakt. Der Unterricht macht mir extrem viel Spaß – aber ich gebe zu, dass ich die emotionale Belastung unterschätzt habe.

 

Inwiefern?


 

Emanuel Beer: Viele Flüchtlinge haben traumatische Erfahrungen hinter sich, von denen ich nur gelesen oder gehört hatte. Und dann schaut mir plötzlich jemand in die Augen und erzählt, wie seine Freunde auf der Flucht starben, wie sein Bruder erschossen wurde, wie er in syrischer Haft gefoltert wurde und zeigt mir, welche Fingernägel ihm herausgerissen wurden…

 

Das ist nichts, da passieren noch schlimmere Dinge…

Emanuel Beer: Ich möchte mir das nicht vorstellen. Wenn dir Menschen Bilder von Freunden und ihrer Familie zeigen und immer dazu sagen, wer davon getötet wurde, ist das sehr belastend. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es mir in so einer Situation gehen würde. Dazu kommt eine Art Hilflosigkeit in der gegenwärtigen Lage, für die ich mich mitverantwortlich fühle. Es ist belastend, so wenig für die Flüchtlinge hier in Deutschland tun zu können. Die Hilfsmöglichkeiten sind begrenzt.

 

Denkst du manchmal, dass es ein Fehler war, mit dem Unterricht anzufangen?

Emanuel Beer: Nein, im Gegenteil. Ich habe viel gelernt und engagiere mich weiterhin. Ich musste aber auch lernen, Grenzen zu setzen. Ich kann nicht allen helfen.

 

Was ist am schwierigsten im Unterricht? Wie kann die Regierung helfen, dass der Unterricht noch effektiver wird?

Emanuel Beer: Es gibt eigentlich nur zwei Dinge, die wirklich kompliziert sind: die großen Gruppen, die effektives Lernen unmöglich machen, und die fehlende gemeinsame Basissprache. Die Regierung sehe ich in einer Reihe mit der Gesellschaft. Alle haben doch ein Interesse daran, dass sich die Flüchtlinge – unter denen viele hervorragend ausgebildet sind – schnell integrieren und auch Arbeit finden. Dafür müssen sie Deutsch sprechen. Also sollte jeder das tun, was er kann, um dieses Ziel zu erreichen. Die einen mit Rahmenbedingungen und Geld, die anderen mit Engagement.

 

Einige Deutsche glauben, dass es auch Flüchtlinge gibt, die keinen Grund hatten zu fliehen, die zu Hause nicht in einer Notsituation waren. Was denkst du darüber?



Emanuel Beer: Ich bin mir ganz sicher, dass niemand diese gefährliche – vielleicht tödliche – Flucht auf sich nimmt, seine Heimat, seine Familie verlässt, wenn er nicht in einer Notsituation wäre.

 

Glaubst du, dass manche Flüchtlinge falsche Vorstellungen von Deutschland haben?

Emanuel Beer: Ja, das stimmt. Sie bekommen ein schönes Bild gemalt und denken: Das ist ja wie im Himmel. Nur können wir ihnen Unwissenheit nicht zum Vorwurf machen.

 

Darauf wollte ich hinaus. Natürlich haben alle – unabhängig von der persönlichen Situation – Angst, dass der Nahe Osten irgendwann wie ein Pulverfass explodiert.

Emanuel Beer: Und du?

 

Ich auch. Überall ist es besser als im Nahen Osten. In Deutschland werden wir wie Menschen behandelt und nicht wie Schachfiguren, wie Bauernopfer. Wo wir herkommen, spielen sie mit uns. Dort ist keiner sicher.

Emanuel Beer: Deshalb war es kein Fehler, nach Deutschland zu kommen. Aber die Flüchtlinge sollten aufgeklärt werden, dass in Deutschland nicht das Paradies wartet, sondern eine ganz harte Zeit. Das Asylverfahren dauert lange, sie müssen mehrere Phasen durchlaufen. Und sie selbst müssen große Anstrengungen unternehmen, um sich zu integrieren.

 



Eine Frage zum Schluss: Wann ist es den Deutschen genug? Wann sind es zu viele Flüchtlinge?

Emanuel Beer: Das ist für mich in erster Linie keine Frage einer fiktiven Zahl. Wenn sich alle Menschen in Deutschland mehr engagieren, haben wir künftig keine Probleme.



 

Es engagieren sich noch zu wenig Menschen?

Emanuel Beer: Ja, definitiv.

 

Das Interview mit Emanuel Beer, Chefredakteur "Allgemeiner Anzeiger" Erfurt, führte Osamah Ali Hamad.