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Newsroom

Tageszeitungen: Wie lokal darf die Titelseite sein?

Wie viel Lokales darf auf die Titelseite einer Regionalzeitung? Wann wird es "provinziell"? Und gehören Lokalnachrichten wirklich auf die wichtigste Seite der gedruckten Zeitung?

Minden - Mit diesen Fragen beschäftigen sich im ganzen Land Blattmacher - Nachrichten aus Washington lieber ins Innere verbannen und stattdessen mit dem schweren Verkehrsunfall aus der Nachbarschaft aufmachen? Was ist richtig? Was kommt an?

Denn auch für Leser ist es ungewöhnlich, wenn der bislang bekannte und gelernte Aufbau der Zeitung umgestellt wird.

 

Christoph Pepper, Chefredakteur vom "Mindener Tageblatt", findet auch für kritische Leserinnen die richtigen Worte. Die Leserinnenzuschrift und die komplette Antwort des Chefredakteurs sind in voller Länge im Redaktionsblog MT-Intern dokumentiert.

 

Wie zum Beispiel beim „Mindener Tageblatt“, das sich gerade neu aufgestellt hat.

Den Unmut einer Leserin hat dort die Redaktion um Chefredakteur Christoph Pepper auf sich gezogen.

Die treue Leserin schreibt unter anderem: „Ihre Einstellung schwerpunktmäßig die Lokal-Berichterstattung auszubauen, mag aus ihrer Sicht für eine Lokalzeitung begründet sein. Gleichwohl finde ich deren Akzentuierung auf Seite 1 sehr unglücklich und sie bereitet mir Unbehagen, wird doch in einer zunehmend globalisierten Welt das Lokale (Provinzielle) derartig in den Vordergrund gerückt. Dabei ist das ja nur ein Formproblem. Inhaltlich würde ja nichts verändert, es ist nur die Frage der Gewichtung, doch mit fataler Auswirkung auf das Selbstverständnis eines guten Journalismus mit entsprechendem Bildungsauftrag.“

Lesenswert ist die Antwort von Chefredakteur Christoph Pepper, die Newsroom.de - auch als Anregung für andere Redaktionen - in voller Länge dokumentiert. Sie zeigt, wie nachdenklich und selbstbewusst Journalisten heute auf kritische Lesermeinungen eingehen können und müssen.  B.Ü.

Christoph Peppers Brief an eine kritische Leserin

„Vielen Dank für Ihre ausführliche Mail als Reaktion auf unsere kürzlich erfolgte Umgestaltung. Wir freuen uns sehr über die intensive Auseinandersetzung vieler unserer Leserinnen und Leser mit diesem Schritt, ist sie doch weiterer Beleg für die große Verbundenheit unserer Leserschaft mit der Heimatzeitung – an die man eben auch immer ganz persönliche Erwartungen hat.

Womit die erste Schwierigkeit für Zeitungsmacher benannt wäre, denn in der Regel sind diese Erwartungen selten deckungsgleich, noch weniger die jeweiligen individuellen Interessen. Weshalb wir auch bei der jüngsten Umstellung von Anbeginn an versucht haben, die Erwartungen und Wünsche der Leserinnen und Leser intensiv einzubeziehen, ohne dabei unsere eigenen journalistischen Vorstellungen aus dem Auge zu verlieren.

In der Tat ist das Mindener Tageblatt eine Lokalzeitung. Und nichts anderes wollen wir sein – das aber nach Möglichkeit mit dem hohen Anspruch, das Geschehen in Heimat und Welt in seiner Bedeutung für die Leserschaft miteinander in Verbindung zu setzen. Dies haben wir auch auf der Titelseite nun noch einmal deutlicher gemacht als auch bisher schon. Nun steht täglich immer das wichtigste überregionale Nachrichtenthema sowie das wichtigste bzw. interessanteste Thema aus der Region auf der Titelseite – und je nachdem, wie die Redaktion es in Bezug auf seine Diskussions-Relevanz einschätzt, entscheidet sie, welchem der größere Platz zugemessen wird.

Dass wir deshalb provinzieller (als vorher?) geworden sind, sehe ich nicht (ich wäre übrigens durchaus bereit darüber zu streiten, ob „provinziell“ als negative Kategorie taugt, gerade für eine Lokalzeitung). Im Gegenteil: wir haben der überregionalen Politik-, der Wirtschafts- und Kulturberichterstattung sogar deutlich mehr Platz eingeräumt als früher. Außerdem haben wir durch eine – wie wir finden: praktische – Zweiteilung der täglichen Zeitung in eine Hälfte mit dem Lokalteil und eine Hälfte mit Überregionalem und Sport auch die Möglichkeit geschaffen, sich gezielt dem Themenbereich zuzuwenden, der am meisten interessiert.

 

Das "Mindener Tageblatt" erscheint in einer verkauften Auflage von 31.802 Exemplaren (IVW, 3/2014). Die Zeitung mit eigener Mantelredaktion erscheint seit dem 5. Juni 1856 im Verlag J.C.C. Bruns, der sich im Familienbesitz befindet.

 

Eine fatale Aufgabe unseres journalistischen Anspruchs bzw. der damit verbundenen Bildungsauftrags kann ich darin nicht erkennen. Nochmals im Gegenteil: Durch die Einführung neuer Elemente wie etwa der monothematischen Seite 3 (übrigens auch im Lokalteil) haben wir den journalistischen Anspruch deutlich gesteigert: endlich gibt es Platz für ausführliche Hintergrundberichterstattung mit großen Korrespondentenberichten, Erklärstücken, Grafiken, Kurzinterviews, Faktenboxen und mehr. Nebenbei: aufwendige Elemente, die Sie in wenigen deutschen Zeitungen unseres Typs und unserer Größenordnung finden werden.

Ehrlich gesagt kann ich auch mit der Dichotomie Globalisierung-Provinz wenig anfangen. Das Mindener Tageblatt ist heimatnah und weltoffen (um einen alten Werbespruch aufzugreifen), weil sich hier bei uns „in der Provinz“ tagtäglich auch die „große weite Welt“ – nicht nur in Nachrichtenform – wiederspiegelt und in teils ganz konkreten Folgen und Konsequenzen niederschlägt. Dies zu beleuchten, ist einer unserer wesentlichen Ansprüche. Gleichzeitig aber sehen wir auch und gerade die Berichterstattung über die Ereignisse und Entwicklungen vor Ort als unsere Pflicht an, weil nur informierte Menschen in der Lage sind, sich ein Urteil zu bilden.

Sie selbst fordern das etwa im Bereich der Kultur ein. Hier möchte ich ein Missverständnis auflösen: im Bereich der Ankündigung von Kulturveranstaltungen ist die einzige Veränderung gegenüber dem Zustand vor der Umstellung, dass wir aus der Wochen-Vorschau (eine Seite) und dem Terminkalender (zwei Seiten, zusammen also drei) in der bisherigen Wochenendbeilage „Wochen-Journal“ zum Samstag nunmehr ein 20-seitiges Magazin als integrierten Bestandteil der Donnerstagausgabe zum Herausnehmen gemacht haben – also terminlich vorgezogen und mit mehr Platz versehen haben, übrigens zur großen Freude vieler Kulturveranstalter, die das seit Jahren von uns erbeten haben.

Tagesaktuelle Hinweise auf Veranstaltungen gibt es im gleichen Umfang wie vorher: alle wichtigen und interessanten Veranstaltungen werden noch einmal in einem täglichen Terminkalender aufgeführt – der unterscheidet sich von der vorherigen Version lediglich dadurch, dass wir alle ständig ohne Veränderung wiederkehrenden Elemente (Büro-Öffnungszeiten etc.) eliminiert haben.

Gleichzeitig haben wir der bislang auf der oft im hinteren Teil der Zeitung auf einer einzigen Kulturseite kasernierten Veranstaltungsberichterstattung deutlich mehr Platz und vor allem Gestaltungs- und Präsentationsmöglichkeiten verschafft, indem wir sie in die entsprechenden Lokalseiten integriert haben – dort, wo auch die Veranstaltungen stattfinden. Zusätzlich gibt es jetzt täglich eine ganze Seite überregionale Kultur.

Sie empfinden die neue Seite 2 (im Lokalteil) als unübersichtlich, überflüssig, gar als zusätzliche Verwirrung. Ja, sie ist bewusst kleinteilig gehalten, weil sie – als visuelles Gegenstück zur gegenüberliegenden, oft „schweren“ monothematischen Seite 3 mit nur einem Thema kurzweiliger daherkommen soll, durchaus auch unterhaltend. Aber sie ist eine Einladung zur Kommunikation. Täglich kommentiert hier die (Lokal)Redaktion oder ein Gastkommentator ein lokales Thema, täglich äußert sich hier die Leserschaft, täglich wird ein Rückblick auf die Lokalgeschichte anhand von alten Zeitungsberichten geworfen, regelmäßig gibt es Kurzinterviews, Leserfotos, Leserreaktionen aus den sozialen Netzwerken – kurz: dies ist unsere“Dialogseite“, in der sich auch die Leserschaft noch unmittelbarer wiederfinden kann als in der „alten“ Zeitung. Die Reaktionen sind gespalten. Manchen geht es wie Ihnen; andere reagieren begeistert und stellen fest, dass sie die Seite 2, die sie früher regelmäßig überblättert haben, jetzt intensiv lesen.

Ja, selbstverständlich nehmen wir alle Hinweise aus der Leserschaft ernst und prüfen sie intensiv. Selbstverständlich sind gerade die Reaktionen auf eine solch umfassende Umstellung wie die jüngste auch Anlass, alles noch einmal genau zu bewerten und zu überprüfen. Umgekehrt bitten allerdings auch wir Sie: Versuchen Sie die Zeitung auch einmal mit Augen zu sehen, die nicht von der Vorerfahrung geprägt sind. Und prüfen Sie vor allem die journalistische Güte und Relevanz unseres Angebots. Es ist, das darf ich mit gewissem Stolz erneut sagen, für deutsche Zeitungen unserer Größenordnung ungewöhnlich. So wie es ungewöhnlich ist, dass Zeitungshäuser unserer Größenordnung überhaupt publizistisch und wirtschaftlich unabhängig sind.

Redaktion und Verlag sind froh, von ihren Verlegern die dafür erforderlichen Produktionsmöglichkeiten und –bedingungen zu bekommen. Sie geben dafür ihr Bestes bei dem täglichen Versuch, eine richtig gute Zeitung zu machen. Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie uns dabei weiter als kritische Leserin begleiteten."

Christoph Pepper

Chefredakteur "Mindener Tageblatt"