Print
Newsroom

Zeitungsforscher Günther Rager: „Wer den Mantel vernachlässigt, handelt fahrlässig“

Alle Kraft ins Lokale – die Formel, mit der teure Medienmanager bei Verlegern punkten möchten, ist ein Trugschluss – zumindest in ihrer absoluten Knappheit. Wer die überregionale Berichterstattung vernachlässigt, handelt fahrlässig. Sagt der renommierte Dortmunder Zeitungsforscher Günther Rager in einem exklusiven Beitrag für NEWSROOM.

Dortmund - Günther Rager gilt als einer der profiliertesten Zeitungsforscher nicht nur im deutschsprachigen Raum, bis 2009 lehrte er als Professor am Institut für Journalistik der Technischen Universität Dortmund, 2005 erhielt er eine Ehrenprofessur an der Lomonossow Universität Moskau. Für das Konzept von einigen Regionalzeitungen, sich komplett in die eigene Region zurückzuziehen, findet Günther Rager deutliche Worte. Er schlägt eine Lanze für eine Heimatzeitung, die den Kreis nicht zu eng zieht, mit Blattmachern, die Haltung beweisen.

„Das Herz des modernen Journalismus schlägt im Lokalen.“

„Lokales ist ein Wachstumsmarkt.“

„Nähe ist Trumpf.“

Drei zufällig herausgegriffene Schlagworte, die finden kann, wer die Stichworte „Regionalzeitung“ und „Zukunft“ bei Google eingibt. In Diskussionsrunden, auf Tagungen und in Beiträgen zur Zukunft der Zeitung überbieten sich Praktiker und Wissenschaftler mit Lobreden aufs Lokale. „Stärkt das Lokale! Bezahlt die Lokalredakteure am besten! Macht sie zu Local Heroes!“, forderte gar ein Vertreter der ProSiebenSat.1 Media AG Ende September auf dem BDZV-Zeitungskongress in Berlin.

 

Unser Autor Prof. Dr. Günther Rager (69) ist Gesellschafter der mct media consulting team Dortmund und arbeitete bis 2009 als Professor am Institut für Journalistik der Technischen Universität Dortmund. Dort lehrte und forschte er vor allem zur Rezeption von Rundfunk-, Print- und Onlinemedien, zu Produktionsbedingungen im Journalismus und zur Leserschaft von Tageszeitungen mit dem Schwerpunkt auf jugendlichen Lesern und Nichtlesern. Für das mct entwickelt und leitet er Forschungsprojekte vor allem für Medienbetriebe, beispielsweise  Leserbefragungen, Inhaltsanalysen oder Gruppendiskussionen; entwickelt und evaluiert er Zeitungsprojekte für Kindergärten und Schulen und berät und schult Verlage und Unternehmen in Fragen der Medienkompetenz, bei Umstrukturierungen, Neuentwicklungen und Kommunikationsproblemen.

Nach seinem Studium der Germanistik, Geschichte und Empirischen Kulturwissenschaft in München und Tübingen und anschließender Promotion arbeitete Günther Rager zunächst als Fernsehjournalist. Ab 1973 baute er den Studiengang Kommunikationswissenschaft an der Universität Stuttgart-Hohenheim auf. 1984 wurde er ans Institut für Journalistik der Universität Dortmund – die heutige Technische Universität Dortmund - berufen. 2005 erhielt er eine Ehrenprofessur an der Lomonossow Universität Moskau.

 

Das Konzept Heimatzeitung gilt als Hoffnungsträger, nur mit dem Fokus auf den Nahbereich, heißt es in der Branche, könne man im Online-Zeitalter mit Print noch punkten.

Autorenblätter werden Heimatzeitung

Was heute Mainstream-Meinung ist, war vor wenigen Jahren eine Außenseiter-Position. Noch Anfang des Jahrtausends zielten viele Chefredakteure statt auf „Heimatzeitung“ eher auf ein Großstadt- oder Autorenblatt. Und das Pendel schlug nicht nur zurück, es schlägt weiter aus als je zuvor. Mancherorts konzentrieren sich alle Innovationen auf den Nahbereich. Einige Zeitungen reservieren dem lokalen Geschehen stets die Titelseite, unabhängig von der Relevanz der Ereignisse. Zugleich wird der Mantel häufig vernachlässigt. Jüngstes Beispiel: Das „Svenska Dagbladet“ aus Stockholm, eine konservative, überregionale Qualitätszeitung, will ihr tägliches Feuilleton ebenso abschaffen wie eine eigene Sportredaktion, berichten taz und Deutschlandradio Ende September. 

Das nennt man einen Paradigmenwechsel. Die Frage lautet nur: Ist er Erfolg versprechend? Wollen die Abonnenten das wirklich?

Aus wissenschaftlicher Sicht lässt sich darauf mit Sicherheit eines sagen: Die beliebtesten, also meist gelesenen und am besten bewerteten Seiten von Regionalzeitungen sind in der Regel Mantelseiten, bei erwachsenen Lesern ebenso wie bei Jugendlichen.

Und: Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass die Regionalzeitungsleser ausschließlich Heimatnachrichten erwarten und das Geschehen im Rest der Welt sowieso lieber im Fernsehen, Internet oder über die überregionale Presse verfolgen.

Leserbefragungen, die das media consulting team Dortmund für Verlage in ganz Deutschland organisiert und auswertet, zeigen, dass es von drei Faktoren abhängt, wie und wie stark Zeitungleser regional und überregional informiert werden wollen: Erstens, es kommt sehr auf die Region an. Zweitens, es kommt auf die Zeitung an. Drittens, es kommt auf die Leserschaft an. Das klingt banal? Das ist es leider nicht – es ist hoch komplex. Jeder Zeitungsmacher weiß, dass es keine Patentrezepte zum Erfolg gibt. Wieso also sollte eine fast ausschließliche Fokussierung auf den Nahbereich ein Rezept sein, das für alle passt?

Da ist Zeitung A. Die Leser dieser Zeitung wurden gefragt, wie wichtig ihnen welche Nachrichten sind. 86 Prozent gaben an, dass ihnen Nachrichten aus dem eigenen Ort sehr wichtig sind. Nachrichten aus Deutschland oder dem Rest der Welt dagegen fand im Vergleich dazu ein knappes Drittel sehr wichtig.

Und da ist Zeitung B. Ihren Lesern wurde die gleiche Frage gestellt, mit durchaus anderem Ergebnis: Dort sagen nur 66 Prozent, dass Nachrichten aus dem eigenen Ort ihnen sehr wichtig seien; Nachrichten aus Deutschland und der ganzen Welt aber kommen auf 57 Prozent.

Was bedeutet das? Und wie sind die Unterschiede zu erklären? Schauen wir auf die drei Faktoren: die Zeitung, die Region und die Leserschaft.

Verpassen Sie nie mehr die wichtigsten Entwicklungen in der Medienszene. Hier können Sie unseren Newsletter direkt kostenlos oder in der Premium-Ausgabe (Kosten: 1 Euro pro Monat) abonnieren.

Zeitung A erscheint in einer größeren Kleinstadt und positioniert sich klar als Heimatzeitung. Sie wirkt bodenständig, solide, heimatverbunden. Lokale Nachrichten sind im Mantel sehr prominent vertreten. Die klassischen Mantelseiten – Politik, Wirtschaft, Kultur – findet man erst im zweiten Buch, sie werden zugeliefert. Mit diesen überregionalen Seiten können sich die Leser nicht recht anfreunden.

Ressorts, die bei anderen Blättern meist häufig und gern genutzt werden – etwa das Vermischte oder die Regionalseite -, erzielen bei Zeitung A unterdurchschnittliche Werte. Das liegt auch an der Struktur der Zeitung: Die Mantel-Seiten haben keinen verlässlichen Platz in der Zeitung, die Leser finden sich nicht gut zurecht. Dafür goutieren sie die klare Ausrichtung auf die Heimat, und sie finden es gut, dass sich das Geschehen der Region verlässlich so weit vorne in ihrem Blatt abspielt.

Immerhin könnten sie sich auch für ein Abo des Mitbewerbers entscheiden, der den Mantel klassisch fürs Überregionale reserviert. Zeitung A verliert trotzdem überdurchschnittlich an Auflage (und ihr Mitbewerber ebenso); neue Abonnenten zu gewinnen fällt ihr schwer.

Zeitung B erscheint in einer mittleren Großstadt, einer Universitätsstadt. Sie wirkt ruhig, anspruchsvoll und seriös. Diese Zeitung ist klassisch aufgeteilt: Außen der Mantel, innen das Lokale. Der Mantel bringt viele ausführliche, auch lange Lesestücke und arbeitet so wenig wie möglich mit Nachrichtenagenturen, dafür viel mit eigenen Korrespondenten. Auch sie verliert wie alle Zeitungen in Deutschland an Auflage, allerdings leicht unterdurchschnittlich. Bei der Befragung zeigte sich, dass die Leser dieser Zeitung ihren überregionalen Teil sehr schätzen und die Zeitung teilweise sogar vor allem wegen des Mantels abonnieren – gerade in jenen Teilen des Verbreitungsgebietes, in denen ein örtlicher Mitbewerber den ausführlicheren, stärkeren Lokalteil bietet.

Mit speziellen Formen der Leserbefragung lässt sich recht genau identifizieren, wo die Stärken und wo die Schwächen einzelner Zeitungen liegen. Und dass die Stärke der einen Zeitung genau die Achillesferse der anderen sein kann.

Macht Zeitung A mit ihrer konsequenten Lokalisierung etwas falsch? Nein, die Leser bestätigen dieses Konzept im Grundsatz, und für diese Region und ihre jetzige Leserschaft ist es wohl richtig. Die Leserschaft ist im Vergleich zur Leserschaft der Zeitung B formal geringer gebildet und deutlich älter. Das Verbreitungsgebiet des Blattes ist geschlossen gewachsen, und der starke Fokus auf dem Lokalen liegt in der Tradition dieser Zeitung.

Allerdings könnte diese Zeitung zum einen ihren Lokal-Begriff ein wenig dehnen. Lokal ist, was den Lesern nah ist – und dieses Nähe-Konzept endet nicht an der Stadtgrenze oder den Grenzen des Verbreitungsgebietes. Auch Nachrichten, die anderswo spielen, dürfen ruhig prominent platziert werden, wenn sie die Leser betreffen oder berühren. Zum anderen ist die Frage, ob es nicht noch ein Potenzial unter den Jüngeren und den Bewohnern mit höherer Bildung gibt, das durch eine ausführlichere, verlässlichere oder auch nur anders aufgemachte Mantel-Berichterstattung erschlossen werden kann. Zur Erinnerung: Ein knappes Drittel der bisherigen Leser interessiert sich sehr für Nachrichten aus Deutschland aller Welt – das ist keine Größe, die man vernachlässigen sollte.

Kann Zeitung B noch etwas verbessern? Durchaus: Indem sie versucht, die Stärken ihrer Mantelberichterstattung offensichtlicher auch in ihren Lokalausgaben zu spielen – vor allem da, wo der örtliche Mitbewerber stark ist. Wenn ausführliche, hintergründige, gut geschriebene Lesestücke im Mantel gut ankommen, werden dieselben Leser sie auch im Lokalen begrüßen. Um ihre Lokalberichterstattung zu verbessern, könnte diese Zeitung gezielt versuchen, ihre Leserschaft noch stärker einzubinden – und dadurch an die Zeitung bzw. an die Marke zu binden.

Die nachwachsende Generation der Zeitungsleser – und ja, noch gibt es eine - wächst damit auf, dass sie schnell und unkompliziert ihre Meinung äußern, einen Input geben, etwas up- oder downloaden kann. Im Nahbereich sind die Impulse, sich zu beteiligen, besonders stark – Redaktionen sollten dieses Potenzial nicht verschenken.

Kultur und Wirtschaft schwächen ist falsch und fatal

Regionalzeitungsleser sind häufig kein Spiegel der Bevölkerung mehr – schon heute gehören Abonnenten und  Leser der gedruckten Zeitung einer eher höher gebildeten, sozial oder gesellschaftlich eher engagierten Bevölkerungsschicht an, und dies wird sich in Zukunft noch verstärken. Umso falscher und fataler ist es, jetzt die Berichterstattung über Wirtschaft oder Kultur zu schwächen. Wer dies tut, der setzt die noch funktionierende Bindung zu seinen treuesten Kunden aufs Spiel.

Letztlich ist die Unterscheidung zwischen „lokal“ und „überregional“ erst einmal eine, die Journalisten dabei hilft, sich selbst und ihre Arbeit zu organisieren. Auch die Leser registrieren natürlich, ob eine Nachricht vor Ort spielt oder in der Nachbarstadt. Vor allem aber registrieren sie, ob eine Nachricht sie betrifft – oder nicht. Ob sie ihnen nützt – oder nicht. Ob sie sie überrascht – oder langweilt. Ob sie Unterhaltungswert hat und Gesprächsstoff bietet – oder nicht. Ob sie nach der Lektüre anders über ein Thema denken und Neues erfahren haben – oder nicht. Ob sie Anregungen bekommen haben – oder nicht.

Beim Blattmachen entscheidet Haltung

So gesehen ist das Konzept Heimatzeitung eine Haltung, und zwar eine Haltung, Nachrichten aus und für die eigene Region zu übersetzen, zu hinterfragen und zu deuten. Geografische Grenzen spielen dabei nicht die wesentliche Rolle. Heimatzeitung meint auch, die „großen“ Themen nahbar und erfahrbar zu machen – von der europäischen Finanzkrise über den Streit um Kinderbetreuung bis zum Bürgerkrieg in Syrien. Es geht darum, diese Themen mit bekannten Stimmen und Gesichtern zu verbinden, zu inszenieren und die Möglichkeit zu bieten, sich zu beteiligen, sei es mit Meinungen, ergänzenden Informationen, Fotos oder Initiativen. Und zwar im ganzen Blatt. Wenn „Heimatzeitung“ so übersetzt wird, und wenn der Mantel darüber nicht vernachlässigt wird, sondern vielmehr eingebunden ist in eine Strategie, dem Leser und der Leserin die Nachrichten nahe zu bringen, egal wo sie spielen – dann bin ich einverstanden damit, alle Kraft in diese Strategie zu stecken.

In Anlehnung an einen bekannten Sponti-Spruch aus den späten 1960er Jahren: Lokal – überregional – ganz egal! Auf die Haltung kommt es an.

Günther Rager

Wie sehen Sie die Zukunft der Regionalzeitungen? Sollen sich die Verlage ins Lokale zurückziehen, Ressorts zusammenlegen, auf Kultur und Wirtschaft verzichten? Oder doch lieber auch das Fenster zur Welt bleiben? Wir freuen uns über Ihre Zuschrift per E-Mail an redaktion@newsroom.de.