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11. September 2001: Hektik hinter der Kamera

Wie die Nachrichtenredaktionen der TV-Sender auf die Terroranschläge reagierten.

Hamburg/Mainz/Köln (dapd). Ulrich Wickert hat gerade in Hamburg zu Mittag gegessen, als er erfährt, dass im mehr als 6.000 Kilometer entfernten New York ein entführtes Passagierflugzeug in den Nordturm des World Trade Centers gerast ist. Er sucht Anzug, Hemd und Krawatte zusammen und eilt in die Redaktion. Die grausamen Ereignisse am 11. September 2001 bringen nicht nur "Mr. Tagesthemen" und seine Kollegen an ihre Grenzen. Sie verändern auch die Fernsehberichterstattung nachhaltig.

Spätestens ab dem Einschlag des zweiten Flugzeugs herrscht in den Nachrichtenredaktionen der drei großen TV-Sender ARD, ZDF und RTL eine Mischung aus Fassungslosigkeit und hektischer Betriebsamkeit. Die Verantwortlichen in Hamburg, Mainz und Köln diskutieren, ob und wann sie das laufende Programm unterbrechen und in die Live-Berichterstattung einsteigen sollen.

Der Privatsender reagiert am schnellsten. Gemeinsam mit Informationsdirektor Hans Mahr beschließt der damalige Redaktionsleiter Michael Wulf eine Dreiviertelstunde nach dem ersten Einschlag, live auf Sendung zu gehen. Die ARD-Verantwortlichen in Hamburg müssen erst mit der Programmkoordination in München Rücksprache halten. Quälend lange Minuten vergehen, in denen im Ersten ein Tierfilm läuft.

"Wer sind Sie und was können Sie mir sagen?"

Die ehemalige Chefin der ZDF-Nachrichtensendungen, Bettina Warken, erklärt die langwierigen Entscheidungsprozesse in ihrer Anstalt so: "Die Überlegung damals war: Sollen wir wirklich das Programm unterbrechen mit Livebildern, von denen wir nicht wissen, was die Menschen erwartet? Wir mussten Menschen zeigen, die sterben. Und das im Nachmittagsprogramm." Das ZDF übernahm die Livebilder aus Rücksicht auf die Zuschauer mit sechs Sekunden Verzögerung. Bei allzu schrecklichen Bildern, wurde das Kamerabild umgeschaltet.

Hinter den Kulissen beginnen die Redaktionen, die undurchsichtige Nachrichtenlage zu sondieren, Gesprächspartner einzuladen sowie Leitungen zu den Korrespondenten nach New York und Washington zu bestellen. Während seine Gesprächspartner in den Schalten antworten, liest Wickert im ARD-Studio Agenturmeldungen, die ihm damals noch auf Zetteln gereicht werden. Ein Computer wird erst nach den Erfahrungen von 9/11 in den Moderationstisch eingebaut. Wickert hört irgendwann auf, etwas zu trinken, um während der stundenlangen Liveübertragung nicht zur Toilette zu müssen. Immer wieder tauchen neue Gesprächspartner im Studio auf. "Ich schob denen dann einen Zettel hin auf dem stand: 'Wer sind Sie und was können Sie mir sagen?'", erinnert sich Wickert. Zwischenzeitlich verstummt er - fassungslos über das, was er und die Zuschauer zu sehen bekommen.

"Mon Dieu - ich konnte es nicht besser machen"

An eine geregelte Programmplanung ist angesichts des fortlaufenden Schreckens nicht zu denken. "Es entwickelte sich von Sekunde zu Sekunde eine neue Nachrichtenlage", erinnert sich Warken. Vor der Kamera schlägt die Stunde von RTL-Anchorman Peter Kloeppel, einst selbst Korrespondent im Big Apple. "Er ist in dieser Situation ruhig geblieben, hat Informationen eingeordnet und immer wieder klar gemacht, dass nicht klar ist, was da wirklich passiert ist", lobt Wulf, der heute Geschäftsführender Chefredakteur bei RTL ist.

Anders als Kloeppel, der für seine Leistung an diesem Tag mit dem Adolf-Grimme-Spezialpreis 2002 ausgezeichnet wird, erntet sein Kollege Wickert in der Folge Kritik. Es heißt, der erfahrene Tagesthemen-Moderator habe "fahrig" und "zunehmend hektisch" gewirkt. Sein Kommentar dazu: "Mon Dieu, vielleicht war es so - ich konnte es nicht besser machen."

Warken vom ZDF pflichtet ihm bei: "Ich hatte an diesem Tag für jeden Menschen, der sich live einem Publikum präsentieren musste, Verständnis, wenn es Momente der Unfassbarkeit gab, auf die man nicht reagiert hat." Dass RTL für seine Berichterstattung ausgezeichnet wurde, kam für Warken, die ihr Handwerk in Köln gelernt hat, nicht überraschend. "Ich habe das nie für eine unseriöse Sendung gehalten", sagt die heutige Leiterin des ZDF-Landesstudios Berlin. "Aber vielleicht war es auch ein bisschen die Verblüffung der Medienkritik, dass RTL zu so etwas in der Lage ist."

Die Unvorhersehbarkeit des Ereignisses legte bei allen Sendern Schwachstellen offen, die für die Zukunft ausgeräumt werden sollten. Neben der besseren Ausstattung der Studios wurden vor allem Strukturen in den Sendern verändert. Die Entscheidungswege der öffentlich-rechtlichen Anstalten sind heute kürzer, das Breaking-News-Konzept bei RTL wurde überarbeitet. Heute, sagt Warken, sei eine Unterbrechung des laufenden Programms eine Selbstverständlichkeit. Sie selbst hat die heute-Redaktion damals drei Tage lang so gut wie nie verlassen. Ihr Kollege Wulf sagt: "Ich glaube, dass jeder an dem Abend noch gar nicht verarbeitet hat, was da passiert ist." Warken stimmt zu: "Viele von uns haben lange Zeit einfach nur funktioniert."