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Chefredakteur Benjamin Piel: Warum die Pressefreiheit gerade im Lokalen bedroht ist

Chefredakteur Benjamin Piel: Warum die Pressefreiheit gerade im Lokalen bedroht ist Benjamin Piel, Chefredakteur des „Mindener Tageblatt“

„Wenn wir über die Proteste der AfD und sonstiger Coronamaßnahmen-Kritiker berichten, ist es da: das diffuse Gefühl einer lauernden Gefahr. Es ist nicht Angst, angegriffen zu werden, eher ein Unbehagen, ein kalter Hauch.“ Benjamin Piel, Chefredakteur des „Mindener Tageblatt“, fehlt es, dass die Pressefreiheit und die Arbeit von Journalisten laut und breit verteidigt wird.

 Es war der 24. Oktober 2020, als die Pressefreiheit in Minden plötzlich in Frage stand. Auf der Rückfahrt aus den Herbstferien leuchtete das Bild plötzlich auf meinem Handy auf. Eine Schaufensterpuppe war darauf zu sehen, die an einem Strick um den Hals vom Bogen einer Fußgängerbrücke über die Weser baumelte. Vor der Brust ein Schild: „Covid-Presse“.


Seitdem sitzt das Bild in meinem Kopf. Hin und wieder schiebt es sich nach vorne. Beängstigend, bedrohlich, dunkel. Es ist alles wie immer. Und nichts mehr so, wie es war. Eine schwarze Wolke hängt gelegentlich über der Redaktion. Sie schleudert keine Blitze und hat den Kolleginnen und Kollegen weder das Lachen geraubt, noch sie in einen Schockzustand versetzt. Aber das Bild der Bedrohung sollte sitzen – und das tut es. Wenn wir über die Proteste der AfD und sonstiger Coronamaßnahmen-Kritiker berichten, ist es da: das diffuse Gefühl einer lauernden Gefahr. Es ist nicht Angst, angegriffen zu werden, eher ein Unbehagen, ein kalter Hauch.

 

Ein paar Wochen nach dem Puppen-Vorfall bekam ich ein angebliches Behördenschreiben, das vorgab, eine Quarantäne zu verordnen. Es war erst auf den zweiten Blick als Fälschung zu erkennen. Und wieder war da das dumpfe Gefühl der latenten Bedrohung. Es lässt sich nicht leicht beschreiben, aber nach Freiheit fühlt es sich jedenfalls nicht an. Frei ist, wer autonom entscheiden und handeln kann. Mit schwarzer Wolke über dem Journalistenkopf arbeitet es sich nicht so frei, wie das in diesem Land normal sein sollte.

 

Und so ist es genau die richtige Entscheidung, dass Deutschland in der „Rangliste der Pressefreiheit“ von „gut“ auf „zufriedenstellend“ herabgestuft wurde. Es ist eine Veränderung, die dem entspricht, wie frei ich mich bei meiner Arbeit fühle. Zufrieden, ja. Aber richtig gut? Seit mindestens einem halben Jahr nicht mehr.

 

Und so ärgert es mich, dass es relativierende Reaktionen auf die Herabstufung gegeben hat. Es sei doch alles nicht so schlimm, hieß es. Schließlich garantiere das Grundgesetz die Pressefreiheit, und es gölten weitreichende Auskunftsrechte in Deutschland. Und nur darauf, dass diese Rechte Anwendung fänden, komme es an. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Die Abwesenheit staatlicher Zensur ist ein Privileg, aber allein das macht noch nicht alles gut und frei. Wenn Journalisten auf Demonstrationen angegriffen werden, Steine auf Filmteams fliegen, Presse-Puppen symbolisch erhängt werden, „Lügenpresse“-Schreie durch deutsche Städte schallen und Journalisten in Sozialen Netzwerken verächtlich gemacht werden, ist das sehr wohl eine Einschränkung der Pressefreiheit. Das Ergebnis der Arbeit mag die Schere im Kopf bestenfalls nicht ändern. Diese aber überhaupt zur Seite schieben zu müssen, bedeutet Unfreiheit.

 

In der Redaktion haben wir nach dem Fall der aufgeknüpften Puppe eine Supervisionsgruppe eingerichtet. Regelmäßig sollen die Kolleginnen und Kollegen einen Ort haben, an dem sie negative Erlebnisse, symbolische oder verbale Angriffe oder schlauchende Diskussionen auf Facebook an- und besprechen können. Das ist notwendig, denn zunehmend berichten Kollegen davon, dass sie belastet nach Hause gehen, sie die Moderation auf Facebook aggressiv macht, die verbalen Angriffe sie mitnehmen. Auch das klingt nicht nach Freiheit. Und so ist es zu einer redaktionellen Führungsaufgabe geworden, mit Belastungen verantwortungsvoll umzugehen – um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu stärken, und letztlich auch die Pressefreiheit.

 

Und wo war eigentlich der Aufschrei aus der kommunalen Politik, als die Puppe an der Brücke baumelte? Aus dem Rathaus? Aus der Stadtgesellschaft? Es fehlt, dass die Pressefreiheit und die Arbeit von Journalisten in solchen Momenten laut und breit verteidigt wird. Viel zu schnell setzen Gewöhnungseffekte ein, die das Perverse alltäglich erscheinen lassen.

 

Aber damit haben ausgerechnet die Verwaltungen ihre Schwierigkeiten. Viel zu oft gelten Lokaljournalisten, die ihre Rolle ernst nehmen, als unliebsame Nestbeschmutzer. Die zu verteidigen, fällt dann offenbar schwer. Das ist ein fataler Fehlschluss. Es ist Aufgabe von Lokaljournalisten, den Finger in die Wunden zu legen. Wenn es um journalistische Informationsrechte geht, winden sich Behörden vor Ort immer wieder. Und wenn ein Lokalmedium dann bereit ist, seine Rechte juristisch durchzusetzen, kommt den Verwaltungen und der Politik das vor wie ein Affront. Tatsächlich ist es die Verteidigung der Pressefreiheit und die sollten öffentliche Verwaltungen unterstützen, statt zu behindern. Viel zu lange haben gerade kleinere Lokalmedien die Schwächung der eigenen Position durchgehen lassen. Nun ist es harte Arbeit, diese Verkrustung wieder aufzubrechen.

 

Aber bitter nötig: Die Pressefreiheit muss gerade im Lokalen verteidigt werden. Dort, wo der Journalismus nah bei den Menschen ist und Millionen von Leserinnen und Lesern täglich erreicht. Wie frei wir Menschen mit Informationen versorgen und wie gut das Gemeinwesen funktioniert, entscheidet sich nicht nur in Berlin, sondern mindestens ebenso in Minden, Landshut und Grimma.

Dazu kommt: Die Bedeutung der Pressefreiheit muss viel grundlegender und früher vermittelt werden. Es geht um alles. Ohne Pressefreiheit kein freier Zugang zu Informationen, keine freien Bürger, keine Demokratie. Das verstanden, müsste jeder Aufwand Recht sein, das Verständnis für die Bedeutung freier Medien Schulkindern regelmäßig, plastisch und programmatisch zu vermitteln. Es ist nett, dass Schüler in die höchsten Höhen höherer Mathematik eingeweiht werden. Dass sie aber nicht gleichzeitig mit Kompetenzen zum Verhalten in Sozialen Netzwerken, zu Medienkompetenz und Pressefreiheit ausgestattet werden, geht schief.

 

Eine Welt ohne Pressefreiheit ist eine unfreie Welt für alle!

 

Ein Gastbeitrag von Benjamin Piel, Chefredakteur des „Mindener Tageblatt“.