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Medienforscher gegen Ex-FAZ-Herausgeber: D'Inka an Forschungsergebnissen nicht interessiert

Medienforscher gegen Ex-FAZ-Herausgeber: D'Inka an Forschungsergebnissen nicht interessiert Stephan Ruß-Mohl.

„Haben die Medien mehr Angst und Schrecken geschürt als nötig? Haben sie die Politik der Bundesregierung als ,alternativlos‘ erscheinen lassen?“ Stephan Ruß-Mohl hat Fragen an den Journalismus – und eine Antwort auf die Kritik von Werner D'Inka.

Berlin – Medien sind in Demokratien mächtig. Ohne nachhaltige Unterstützung seitens des Fernsehens und der Presse hätte Margaret Thatcher nicht in den Falkland-Krieg ziehen und George W. Bush nicht den Irak-Krieg anzetteln können. Ob das beim Lockdown anlässlich der Pandemie und beim „Krieg“ gegen das Corona-Virus grundsätzlich anders ist, wissen wir noch nicht. Aber zumindest Fragen drängen sich angesichts der Tatsache auf, dass die Nachrichtenmedien, insbesondere die TV-News seit Wochen und wie nie zuvor fast nur noch ein einziges Thema kennen. Haben die Medien mehr Angst und Schrecken geschürt als nötig? Haben sie mit ihrer erstaunlich konsonanten Berichterstattung den Boden bereitet, die Politik der Bundesregierung als „alternativlos“ erscheinen zu lassen? Ja, haben sie vielleicht sogar erst das Meinungsklima erzeugt, das den Shutdown "alternativlos" werden ließ?, schreibt der Medienwissenschafter Stephan Ruß-Mohl auf kress.de und weiter:

 

Diese und weitere Fragen waren Teil eines Dossiers, über das sich Werner D'Inka, Ex-Herausgeber der FAZ echauffiert hat, ohne über das Dokument, das seit Gründonnerstag den Redaktionen vieler Leitmedien vorliegt, selbst zu berichten. Das Dossier hatte drei Kernaussagen:

  • In der ersten Schockstarre-Phase, als Corona alle anderen Themen aus der Medienberichterstattung verdrängt hatte und allein schon diese Thematisierungs-Monomanie Kommunikationswissenschaftler als kritische Stimmen hätte auf den Plan rufen müssen, gab es für sie kaum eine Chance, sich Gehör zu verschaffen. Nur drei Forschern war es nach meinem Eindruck gelungen, an die breitere Öffentlichkeit durchzudringen: Otfried Jarren, Klaus Meier und Bernhard Pörksen.

  • Im zweiten Schritt habe ich zeigen können, dass das Spektrum der Forscherstimmen doch breiter war als angenommen – und dass es sogar bereits erste, spannende Forschungsarbeiten gibt, die mehr Medienaufmerksamkeit verdienten: Daria Gordeeva, Doktorandin an der Universität München, hat in einer ersten Inhaltsanalyse die Corona-Berichterstattung von „Spiegel“, „Süddeutscher Zeitung“, „FAZ“ und „Bild“ untersucht. Sie gelangte zu der Erkenntnis, die Kriegs- und Feindrhetorik dieser Medien habe uns regelrecht – wie in einem richtigen Krieg – in die „schützenden Arme der Exekutive“ getrieben. Der Medienforscher Thorsten Quandt (Universität Münster) wartete außerdem mit einer Studie auf, wie populistisch-alternative Medien Desinformation und Verschwörungstheorien streuen.  

  • Am Ende des Überblicks habe ich meine Besorgnisse sehr bewusst in Form von Fragen an Journalisten und Medienforscher gerichtet, die D'Inka entweder ganz unterschlägt oder bis zur Unkenntlichkeit verkürzt. 

 

Weil diese Fragen meines Wissens bis heute nur der „Tagesspiegel“ (in meiner eigenen Kolumne) aufgenommen hat, möchte ich sie im folgenden erst einmal auszugsweise zugänglich machen: 

  • Panikmache 
    Warum werden wir tagtäglich mit Zahlen von nachgewiesenen Infizierten und Todesopfern bombardiert, obschon den Wissenschaftlern die entscheidenden Zahlen und Daten zur Einordnung der Gefährlichkeit des Virus (z.B. Dunkelziffer, Grad der Durchseuchung) weiterhin fehlen? 

  • Quellenvielfalt und Quellenprüfung 
    Fehlen auch in größeren Redaktionen Wissenschafts- und Medienjournalisten, die angemessen für Quellenvielfalt sorgen sowie einordnen und kontextualisieren können, was ihnen von Virologen und Epidemiologen zugeliefert wird, und wie die Medien mit diesen Informationen umgehen? 

  • Transparenz der Berichterstattungs-Bedingungen
    Warum erfahren wir von den Leitmedien so wenig über die Bedingungen, unter denen sie berichten - insbesondere dann, wenn als Quellen PR genutzt wird oder wenn, wie wochenlang im Fall von China, Regierungspropaganda autoritärer Regime weiterverbreitet wird?
  • Grenzen internationaler Vergleiche
    Warum erfahren wir so viel über ganz wenige Länder (Hotspots: China, Italien, Schweiz, Spanien, USA) und so wenig über Länder, die bisher bei der Eindämmung von Corona „erfolgreicher“ waren als wir?

  • Herdentrieb
    Wie lässt sich die Selbstgleichrichtung der Corona-Berichterstattung in den Leitmedien bis zum Shutdown erklären? Welche Rolle spielen im Kontext der Corona-Berichterstattung wissenschaftliche Erkenntnisse zum Herdenverhalten von Menschen und eben auch von Journalistinnen und Journalisten? 


Wie gesagt, D'Inka war an diesen Fragen und auch an den ersten vorliegenden Forschungsergebnissen zur Corona-Berichterstattung erkennbar nicht interessiert. „Facts are sacred. Comments are free“. Dieses Prinzip haben er und seine Zeitung verletzt, weil sie ihren Leserinnen und Lesern die wichtigsten Informationen aus dem Dossier vorenthielten.

 

D'Inkas Schelte beginnt stattdessen mit der Unterstellung, wir Medienforscher würden offenbar keine Zeitung lesen und pauschal „Medienschelte“ betreiben. Was wiederum die Frage aufwirft, wie genau D'Inka gelesen hat, worüber er schrieb, denn das Dossier weist vielstimmig differenzierte Wortmeldungen aus. Auch bezog sich beispielsweise der wichtige Beitrag von Otfried Jarren, demzufolge ARD und ZDF ihre Rolle in der Corona-Berichterstattung noch nicht gefunden und immer dieselben Virologen als Experten präsentiert haben, ganz klar auf die öffentlich-rechtliche TV-Berichterstattung, und nicht, wie von D'Inka nahegelegt, auf „die Medien“. 

 

Während wir Medienforscher uns Gedanken darum machten, ob der Journalismus unmittelbar vor dem Shutdown seine Rolle angemessen gespielt hat, wartet D'Inka mit allerjüngsten Beispielen aus der Berichterstattung auf, um zu „belegen“, dass der Journalismus sehr wohl die „angebliche Alternativlosigkeit des Shutdown vom Kopf auf die Füße“ stellt. Auch damit zielt er haarscharf an unserer Kritik vorbei. 

 

Im Dossier habe ich auch hervorgehoben, dass die meisten Redaktionen derzeit unter schwierigen Bedingungen Außerordentliches leisten. Diese vielen Einzelleistungen im Journalismus zu Corona-Zeiten sind bewunderns- und anerkennenswert. Trotzdem sollten wir der „systemrelevanten“  Institution Journalismus kritische Fragen stellen dürfen. D'Inka beraubt mehrfach meine Aussagen ihres Kontexts. Lassen wir es mit einem Beispiel bewenden. Meine Frage lautete: Wissen Corona-Berichterstatter um die Übermacht ihrer Bilder (Beispiel: Leichentransporte mit italienischen Armeefahrzeugen in Bergamo) im Vergleich zur begrenzten Macht von Statistiken und Zahlen, welche helfen könnten, Risiken realistisch einzuordnen, zu bewerten und mediale Übertreibungen (wie z.B. bei SARS, BSE etc.) zu relativieren? D'Inka verkürzt das zu: „Wissen Corona-Berichterstatter um die Übermacht ihrer Bilder (Beispiel: Leichentransporte mit italienischen Armeefahrzeugen in Bergamo)?“ um dann hinzuzufügen: „Ja, wissen sie“ – wobei die eigentliche Frage nach dem Umgang mit Risiken (wohl aus gutem Grund?) unbeantwortet bleibt.

 

Mit seiner Polemik bestätigt D'Inka Befürchtungen, dass es allerorten an Wissenschafts- und Medienredakteuren fehlt, die wissenschaftliches Wissen angemessen einordnen können. Gelegentlich passiert das leider, leider eben sogar bei der „FAZ“. Solange wir uns in den Medien nur bei Normalbetrieb „zu Tode amüsiert“ haben, war das auszuhalten. Jetzt, wo es um Leben und Tod und absehbar um Auswege aus einer Weltwirtschafts- und -finanzkrise geht, ist dieser Mangel des Journalismus „systemrelevant“ und gefährlich. Er ist allerdings nicht von „den“ Journalisten verursacht, sondern von uns allen, soweit wir gedankenlos erwarten, dass erstklassiger, unabhängiger Journalismus gratis bereitgestellt werden kann und sich allein aus Werbeerlösen oder aus Staatsknete finanzieren lässt.

 

Zur Person: Stephan Ruß-Mohl, geb.1950, hat das European Journalism Observatory 2003 gegründet. Er war von 2002 bis 2018 Professor für Journalismus und Medienmanagement an der Università della Svizzera italiana in Lugano (Schweiz). Von 1985 bis 2001 war er Publizistik-Professor an der FU Berlin und dort für den Studiengang Journalisten-Weiterbildung und das Journalisten-Kolleg verantwortlich. Forschungsaufenthalte an der University of Wisconsin in Madison/USA (1989), am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz (1992) und an der Stanford University in Kalifornien (1995 und 1999). Seine Forschungsschwerpunkte sind Qualitätssicherung und Qualitätsmanagement im Journalismus, Redaktionsmanagement, vergleichende Journalismus-Forschung (insbesondere: Deutschland, USA, Schweiz, Italien), Medienjournalismus und Medienökonomie.