Vermischtes
Newsroom – Henning Kornfeld

Nannen-Preisträger Karsten Krogmann: Viele Journalisten lösen selbst nicht ein, was sie als Anspruch formulieren

Nannen-Preisträger Karsten Krogmann: Viele Journalisten lösen selbst nicht ein, was sie als Anspruch formulieren Karsten Krogmann

Als Chefreporter der „Nordwest-Zeitung“ hat Karsten Krogmann wichtige Auszeichnungen wie den Nannen- und den Theodor-Wolff-Preis gewonnen, jetzt ist er Presse- und Kommunikationschef einer NGO, des Weißen Rings. Im Interview sagt er, warum er seinen Traumjob aufgegeben hat, was seiner Meinung nach in der Medienbranche schief läuft und wieso er sich auch weiterhin als Journalist betrachtet.

Herr Krogmann, Sie haben Ihren Job als Chefreporter bei der „Nordwest-Zeitung“ zugunsten einer NGO aufgegeben und sind jetzt als Leiter Presse und Kommunikation für die Öffentlichkeitsarbeit des Weißen Rings zuständig. Betrachten Sie sich in der neuen Position noch als Journalist?

Karsten Krogmann: Ja, das tue ich. Ich kann und will das journalistische Denken und Handeln nach so vielen Jahren nicht einfach abstellen - und ich wäre nicht nach Mainz gegangen, wenn der Weiße Ring das von mir erwartet hätte. Im Gegenteil, ich arbeite auch hier nach klassischen journalistischen Kriterien: Wir haben das Ziel, Öffentlichkeit für ein wichtiges Anliegen herzustellen und zur Meinungsbildung beizutragen, unsere Maßstäbe sind Relevanz, Faktentreue und Nachprüfbarkeit, wir setzen uns strenge medienethische Standards. Man kann auch journalistisch arbeiten, wenn man nicht bei einem Verlag angestellt ist.

 

In Ihrer Aufzählung fehlt Unabhängigkeit als ein Wesensmerkmal des Journalismus. Als Vertreter des Weißen Rings sind Sie ja möglicherweise dazu geneigt, das Leid von Verbrechensopfern noch größer erscheinen zu lassen, als es ist, um politischen Forderungen des Vereins Nachdruck zu verleihen.

Wie unabhängig sind denn Verlage, die ihre Inhalte unter dem Druck eines immer schwierigeren Marktumfelds auf Reichweite und Verkaufbarkeit ausrichten und deren meist gebrauchtes Wort mittlerweile „Monetarisierung“ lautet? Und wie unabhängig ist eine Magazinredaktion, die Aktivisten eine Ausgabe gestalten lässt, wie das der „Stern“ gerade zusammen mit Fridays for Future gemacht hat? Viele Journalisten lösen doch selbst nicht ein, was sie als Anspruch formulieren. Ich glaube, dass in der sich rasant verändernden Medienwelt ein Kriterium zunehmend wichtiger wird als Unabhängigkeit, nämlich Transparenz. Das bedeutet, Interessen und Abhängigkeiten sichtbar zu machen, und das tun wir. Es ist richtig, dass wir Journalisten beim Weißen Ring nicht unabhängig sind, weil wir parteiisch sind im Interesse von Kriminalitätsopfern. Der Weiße Ring als Verein aber ist unabhängig von staatlichen Geldtöpfen und frei von Einflussnahme von außen.

 

Sie arbeiten für eine NGO. Würden Sie eine solche Argumentation auch einem Großunternehmen durchgehen lassen?

Im Journalismus wird zurzeit viel über „Haltung“ diskutiert: Sollte man die haben als Journalist? Sollte man zeigen, welchen Werten man sich verpflichtet fühlt? Für mich persönlich ist es schon wichtig, für eine NGO zu arbeiten, die ich für gut und wichtig halte. Da sind wir wieder beim Stichwort Transparenz: Bei einer Organisation wie zum Beispiel Greenpeace weiß ich, wofür sie steht, und ich traue ihr trotzdem und gerade deswegen verlässliche Recherchen in einem definierten Bereich zu. Bei einem Unternehmen wäre ich skeptischer, weil das Ziel nicht Aufklärung ist, sondern der Verkauf eines Produkts. Das heißt nicht, dass nicht auch ein Unternehmen eine glaubwürdige Quelle für bestimmte Informationen sein kann.

 

Sie stellen in Frage, dass Verlage unabhängig sein können, weil sie Journalismus als Produkt betrachten, das sie verkaufen müssen. Das ist für privatwirtschaftlich verfasste Medienunternehmen aber überhaupt nichts Neues.

Neu ist, dass Medienunternehmen mit Journalismus Geld verdienen müssen und nicht mehr mit dem Trägermedium von Journalismus, beispielsweise einer Zeitung. Früher zahlten Mediennutzer fürs Informiertwerden und nicht für die Information, heute muss jeder einzelne Beitrag sein Publikum finden. Medienhäuser sagen jetzt: Wir müssen Themen finden, die den Nutzern Geld wert sind, und unsere Berichterstattung danach ausrichten. In den Verlagen heißen Leser deshalb heute Kunden. Mir war immer die Rolle der Medien als gesellschaftliche Kontrollinstanz wichtig, doch sie tritt zunehmend in den Hintergrund. Daher habe ich in meinem alten Job mehr und mehr Unzufriedenheit gespürt. Hinzu kommen die Sparmaßnahmen und der Personalabbau in der ganzen Branche. Beim Weißen Ring darf ich jetzt Aufbauarbeit leisten.

 

Sie haben als Reporter der „Nordwest-Zeitung“ große Recherchen gemacht, etwa zum Serienmörder Niels Högel, und dafür wichtige Auszeichnungen wie den Nannen-Preis und den Theodor-Wolff-Preis gewonnen. Ist es Ihnen ein einziges Mal passiert, dass Sie eine relevante Geschichte nicht oder nicht in der gebotenen Form machen konnten, weil sie als „unverkäuflich“ galt?

Krogmann: Nein, ich habe immer volle Rückendeckung bekommen. Wütende Abo-Kündigungen nach kritischen Texten hat die Redaktion ausgehalten. Ich habe auch nie erlebt, dass ein Anzeigenkunde Einfluss auf meine redaktionelle Berichterstattung nehmen konnte. Ich habe aber erlebt, wie in der Redaktion zunehmend alles auf den Prüfstand kommt: Es wird genau gemessen, welche Themen wie viele Abos generieren, welche Beiträge die größte Reichweite erzielen oder die stärksten Socal-Media-Reaktionen auslösen. In vielen Häusern rücken Vertrieb und Marketing immer näher an die Redaktionen heran. Ich habe die Zeitung zu einem Zeitpunkt verlassen, zu dem immer sichtbarer wurde, dass sich die ganze Branche in diese Richtung entwickelt und die wichtigsten redaktionellen Kriterien mittlerweile Verkaufbarkeit und Reichweite heißen.

 

Herr Krogmann, viele der Entwicklungen, die Sie beschreiben, machen den Journalismus doch besser: Es ist gut, wenn sich Zeitungen mehr an den Bedürfnissen ihrer Leser als an den Wünschen der Werbekunden orientierten. Dateninformiertes Arbeiten ersetzt ein diffuses Bauchgefühl, und viele Paid-Content-Praktiker in den Redaktionen berichten, dass die Leser Recherche und investigatives Arbeiten durchaus schätzen und auch bereit sind, dafür zu bezahlen.

Auch ich halte Paid Content für überlebenswichtig und habe nie verstanden, warum Verlage ihre Inhalte so lange kostenlos angeboten habe. Ich kann aber nicht die Augen davor verschließen, dass auch jede Menge andere Anbieter wertvolle Informationen haben und sie vielleicht sogar schneller und zuverlässiger anbieten als klassische Medien. Ich bezweifle auch, dass investigativer Journalismus bei Medien, bei denen er nicht zum Markenkern gehört, dauerhaft einer Überprüfung im Hinblick auf die Verkaufbarkeit standhält. Vor diesem Hintergrund ist es nicht schlecht und vielleicht sogar notwendig, dass auch außerhalb der Branche transparente neue Medienangebote entwickelt werden. Genau das tun wir in einem klar definierten Bereich. 

 

Sie wollen jetzt beim Weißen Ring vermehrt selbst recherchieren und veröffentlichen, um auf die Interessen und Schwierigkeiten von Kriminalitätsopfern aufmerksam zu machen. Was genau haben Sie vor? 

Für den Weißen Ring ist es existenziell wichtig, dass er und seine Arbeit sichtbar sind: allen voran für Kriminalitätsopfer, aber auch für Spender, Behörden oder Politiker, die die gesetzlichen Rahmenbedingungen bestimmen. Diese Sichtbarkeit ist immer schlechter mit den konventionellen Mitteln der Pressearbeit herzustellen, weil uns Veränderungen der Medienlandschaft bisherige Zugänge mehr und mehr versperren. Mein Stellvertreter Tobias Großekemper und ich wollen daher mit unserem Team den öffentlichen Fokus mit journalistischen Mitteln verstärkt selbst auf die Opfer von Kriminalität richten, indem wir exemplarische Fälle schildern, investigativ Missstände aufdecken, politische Debatten auslösen. Das alles wollen wir über eigene Kanäle tun. Es gibt bereits eine Mitgliederzeitschrift, die wir magaziniger aufstellen und in einen breiteren politischen und gesellschaftlichen Verteiler geben. Vor allem schaffen wir derzeit die notwendigen Online- und Social-Media-Plattformen, um unsere Inhalte für verschiedene Zielgruppen in Wort, Bild und Ton aufbereiten und anbieten zu können. Wir müssen auch Jüngere erreichen, die den Weißen Ring häufig gar nicht mehr kennen.


Welche Veränderungen der Medienlandschaft erschweren Ihnen denn die klassische Pressearbeit? 

Aufgrund von zwei Entwicklungen funktioniert klassische Pressearbeit heute immer weniger, zum Beispiel in Form von Pressemitteilungen und -konferenzen: Die Auflagen von Zeitungen sind so stark gesunken, dass sie in den meisten Ballungszentren schon jetzt nur noch ein Fünftel der Einwohnerschaft erreichen, Online verschwinden immer mehr Inhalte hinter Bezahlschranken. Der zweite Punkt ist, dass Redaktionen auf diese Entwicklung mit veränderter Themensetzung reagieren. Chefredakteure verkünden stolz, wir machen keinen Terminjournalismus mehr, gehen nicht zu Pressekonferenzen, beachten Pressemitteilungen nicht groß, sondern wir setzen unsere eigenen Themen. Für uns wird es daher immer schwerer, mit unseren Anliegen bei ihnen vorzukommen. Wir müssen also auch andere Wege gehen, um sichtbar zu bleiben. Das ist fast eine Notwehrreaktion.

 

Aber die Themen des Weißen Rings dürften doch nach wie vor für viele Medien relevant sein. 

Ja, wir bekommen nach wie vor viele Anfragen von Journalisten. Ich stelle aber fest, dass einige Kollegen mehr und mehr versuchen, Recherche an uns als Pressestelle auszulagern. Und im Ergebnis verschaffen wir ihnen dann vielleicht einen exklusiven Inhalt, der nur ein ebenfalls exklusives Publikum erreicht, weil er hinter einer Bezahlschranke veröffentlicht wird. Es geht um Aufwand und Ertrag: Wir glauben, dass wir mehr Gewicht darauf legen müssen, selbst als Medium aufzutreten und Öffentlichkeit herzustellen.

 

Komplett ignorieren wollen Sie klassische Medien aber nicht?

Nein, natürlich nicht. Wir beantworten weiter Presseanfragen, wir werden mit Journalisten zusammenarbeiten, wir werden ein Auge haben auf beispielhafte opfersensible Berichterstattung, um sie auf unseren Kanälen weiterempfehlen zu können. Wir werden auch Pressemitteilungen verschicken, mit News aus dem Verein - aber eben auch zu eigenen Rechercheergebnissen, die hoffentlich so relevant, spannend und seriös sind, dass sie ihren Weg in die Öffentlichkeit finden.

 

Hintergrund: Karsten Krogmann, 51, ist seit Mai 2020 Leiter Presse und Kommunikation des Weißen Rings in Mainz. Zuvor war er Chefreporter der „Nordwest-Zeitung“ (Oldenburg). Für seine Recherchen und Reportagen ist er mehrfach ausgezeichnet worden, unter anderem mit dem Nannen-Preis und dem Theodor-Wolff-Preis. Krogmanns Stellvertreter beim Weißen Ring ist Tobias Großekemper, 46, zuvor Reporter der „Ruhr Nachrichten“ in Dortmund. Er gewann ebenfalls zahlreiche Journalistenpreise, darunter den Theodor-Wolff-Preis und den Ernst-Schneider-Preis. Der Weiße Ring wurde 1976 in Mainz als „gemeinnütziger Verein zur Unterstützung von Kriminalitätsopfern und zur Verhütung von Straftaten“ gegründet. Er unterhält nach eigenen Angaben ein Netz von rund 3.000 ehrenamtlichen, professionell ausgebildeten Opferhelferinnen und -helfern in bundesweit rund 400 Außenstellen, beim Opfer-Telefon und in der Onlineberatung. Seine Tätigkeit finanziert er aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden und testamentarischen Zuwendungen sowie von Gerichten und Staatsanwaltschaften verhängten Geldbußen.