Vermischtes
Newsroom

Überall nur Fake News! Dieses Mantra ist gefährlich

Überall nur Fake News! Dieses Mantra ist gefährlich Jana Laura Egelhofer

Warum das so ist und wie Journalisten im Kampf gegen Desinformation vorgehen sollten – 6 Tipps für die Praxis.

Frankfurt – Kein Satz war seit Ausbruch der Corona-Pandemie wohl öfter zu hören und zu lesen als dieser: „Gerade in Zeiten von Fake News braucht es seriösen Journalismus umso mehr.“ Dagegen lässt sich erst einmal wenig sagen. Und es stimmt ja auch. Und dennoch: Die gebetsmühlenartige Betonung einer ständigen Gefahr durch Fake News und Manipulation im Netz birgt durchaus auch Risiken. Denn anders, als der inflationäre Gebrauch dieser Schlagworte vermuten lässt, ist das wissenschaftliche Fundament darunter noch immer ziemlich wackelig. Nicht wenige Forscher fordern deshalb, dass Journalistinnen und Journalisten im Umgang mit Schlagworten und Befunden aus dem Bereich der Desinformation sorgfältiger werden müssen.

 

Aber was bedeutet das für die journalistische Praxis? Alexander Graf hat für das aktuelle „medium magazin“ sechs Tipps zusammengefasst:

 

1. Vorsicht mit dem Etikett „Fake News“

Für viele Wissenschaftler ist der Begriff deshalb sogar auf der Abschussliste gelandet. „Jeder versteht etwas anderes darunter“, sagt Jana Laura Egelhofer von der Universität Wien.  Sie rät Medienmachern, den Begriff so weit wie möglich zu vermeiden – und das durchaus auch aus eigennützigen Gründen. Denn es bestehe die Gefahr, dass man andernfalls zu einer weiteren Normalisierung beitrage – ganz im Sinne populistischer Politiker und ihrer Angriffe auf die Medien: „Es gibt Studien, die darauf hindeuten, dass die ständige Präsenz des Begriffs zu einem geringeren Vertrauen in Medien führt“, sagt Egelhofer. 

 

2. Wir überschätzen den Einfluss von Desinformation

Am 14. April veröffentlicht die „New York Times“ ein langes Stück mit dem Titel „Putin’s Long War Against American Science“ über russische Desinformationskampagnen. Darin stellt der Autor unter anderem eine ominöse russische Nachrichtenseite vor, die offenbar falsche Informationen über das Coronavirus verbreite. Vieles deute auf Verbindungen der Betreiber zu Nachrichtendiensten, mächtigen Oligarchen und dem Kreml hin. Sogar Barack Obama teilt den Text. Das einzige Problem: Wie eine Recherche des Investigativnetzwerks Bellingcat zeigt, steckt hinter der Webseite kein Fake-­News-Influencer aus Moskau, sondern ein schwedischer Blogger namens Karl. Und als der Text in der „Times“ erschien, hatte der irreführende Tweet über das Corona­virus gerade mal einen Like und war ­zweimal geteilt worden. 

 

3. Nicht jedes Gerücht ist Desinformation – die Rolle der Fact-Checker

Es grenzt fast an Ironie: Studien legen nahe, dass ein Großteil der Menschen erst mit Desinformation in Kontakt kommt, wenn klassische Medien darüber berichten – etwa in Form von Faktenchecks. 

 

4. Verschwörungstheorien stammen nicht von Verrückten

Nein, auch wenn Xavier Naidoo und Attila Hildmann es zuletzt in die Schlagzeilen schafften: Wir leben nicht im Zeitalter der Verschwörungstheorien. Zwar fehlt für belastbare Vergleiche das Datenmaterial aus der Vergangenheit – aber eines lässt sich mit Sicherheit sagen: Den Glauben an mächtige Verschwörungen hat es schon immer gegeben. Und er war schon immer mehr als nur ein Nischenphänomen. 

 

5. Roboterpropaganda – der Mythos von den Social Bots 

Es gibt wohl keine einzige gesellschaftliche Debatte, bei der sogenannte Social Bots angeblich nicht ihre Finger im Spiel gehabt haben sollen. Glaubt man den Schlagzeilen, haben die unheimlichen Social-Media-Roboter die Diskussionen über US-Wahl, Brexit oder Migration mit ihren Manipulationen im Netz dominiert. „Ein Viertel aller Tweets zum Klimawandel stammen von Bots“, titelte etwa im Februar der „Guardian“. Das Problem: Hinter fast allen dieser Artikel stehen Studien, deren Aussagewert von einem großen Teil der Forschungsgemeinschaft mittlerweile bestritten wird. Denn sie stützten sich meist auf ein einziges Analyse-Tool: „Botometer“. Das ist nachweislich extrem anfällig für falsche Ergebnisse. Konkret heißt das: Eine riesige Anzahl der angeblichen Bots in solchen Studien sind tatsächlich ganz normale Menschen. 

 

6. Desinformation über Desinformation bleibt Desinformation 

Es gibt durchaus einen Teil der journalistischen Berichterstattung über Desinformation, der selbst bedenklich nahe an Desinformation herankommt. Das ist in Teilen nachvollziehbar. Denn obwohl die Internetforschung noch extrem viele Wissenslücken hat, ist die Außenwirkung vieler Studien extrem groß – und die vermeintliche Erklärungskraft der Ergebnisse gerade für Journalisten ziemlich verlockend. Unheimliche Bedrohungs­szenarien kommen bekanntlich immer gut an. Zum anderen geht es nun mal um die ganz großen gesellschaftlichen Themen: gesellschaftliche Polarisierung, Vertrauensverlust in demokratische Institutionen und Medien, Erfolg von Rechtspopulisten. Die Auseinandersetzung damit ist selbstverständlich die Aufgabe von Journalismus. 

 

Die sechs Praxis-Tipps ausführlich beschrieben finden Sie in der aktuellen Ausgabe des „medium magazins“

 

Zudem finden Sie in der Journalisten-Werkstatt „Digitale Recherche“ eine Reihe alltagstauglicher Instrumente  zur Verifizierung von Informationen. 


Zum Autor: Alexander Graf  ist Redaktionsmitglied des „medium magazins“ und arbeitet  als freier Journalist in Mannheim.

 

Weitere Themen in dieser „medium magazin“-Ausgabe:

 

„30 bis 30". Die Top-Talente im deutschen Journalismus.

 

„Wir müssen so cool werden wie Apple“. Joachim Braun, Redaktionschef der Zeitungsgruppe Ostfriesland, sieht die Pandemie als Digitalisierungsbooster. Aber was heißt das nun für die Praxis?

 

Das Beste aus zwei Welten: Arbeiten im Freien-Kollektiv. Wer die Gruppenstruktur einer Redaktion, aber nicht deren Verbindlichkeiten liebt und einen Zusammenhalt mit gegenseitiger beruflicher Unterstützung sucht, ist im Freien-Kollektiv gut aufgehoben.

 

„Ist der deutsche Journalismus viel zu weiß?“ Diversität in Medien: Scheinheiliger Trend oder echte Wende?, fragt sich Marieke Reimann.

 

Wer hält den Freien in der Pandemie die Treue? Und wer lässt sie in der Not völlig im Stich? Ein Rundblick in Deutschland, Österreich und der Schweiz wirft ein Schlaglicht auf unterschiedliche Praktiken in Verlagshäusern und Ressorts.

 

Extra! 16 Seiten Journalisten-Werkstatt „Einfache Sprache“. Wie Texte verständlicher werden.

 

Plötzlich ist der Datenjournalismus so gefragt wie noch nie. In der Corona-Krise erlebt der datengetriebene, visuelle Journalismus eine Blütezeit. Wie kann das so bleiben?

 

Erdrücken die Öffentlich-Rechtlichen die Privaten? Welche zeitgemäßen Rahmenbedingungen braucht das duale Mediensystem? Und wie sieht das in der Schweiz und in Österreich aus?

 

Der Journalismus nach Corona. Sechs Thesen von Medienexperte Jeff Jarvis.

 

Was bleibt vom Homeoffice? Journalistinnen und Journalisten haben ad hoc ihre Newsrooms geräumt und schlagartig das virtuelle Arbeiten gelernt. Arbeiten bald alle von zu Hause aus? Eine Zwischenbilanz.