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Warum Zeit-Online-Chefredakteur Jochen Wegner seinen Dirigenten mehr vertraut als einer KI

Warum Zeit-Online-Chefredakteur Jochen Wegner seinen Dirigenten mehr vertraut als einer KI Jochen Wegner

Im Juni zählte „Die Zeit“ erstmals mehr als 100.000 voll bezahlte Digitalabos. Zeit-Online-Chefredakteur Jochen Wegner sagt im Interview mit „kress pro“, wie das Abo-Fieber das „gesamte Haus“ erfasst hat, wie er „Dirigenten“ einsetzt, was er von KI hält – und welcher Artikel sich in diesem Jahr am besten verkauft hat.

Das Bezahlmodell von Zeit Online ist als eine Art Hybrid aus den Modellen Meter und Freemium gestartet. Wie hat es sich bewährt? 

Jochen Wegner: Recht gut, wobei sich die Anteile der jeweiligen Zutaten über die Zeit verändert haben. Wir haben drei Sorten von Inhalten: Texte mit einem roten „Z+“-Kästchen sind nur für Abonnenten zugänglich. Andere sind frei verfügbar. Und dann gibt es noch eine Zwischenwelt mit einem grauen „Z+“, die wir uns damals ausgedacht haben, weil wir Sorge hatten, dass vor allem die jungen Onlineleser durch ein reines Abomodell zu stark abgeschreckt würden. Die grauen Texte sind nur login-, aber nicht abopflichtig. Sie sind zwar nicht frei zugänglich, man muss aber nichts bezahlen, sondern erst mal nur seine Mail-Adresse hinterlassen. Hinter der grauen Variante lag ein „Meter“, das die Zahl der kostenlos lesbaren grauen Texte auf wenige beschränkte. 

 

Hat sich die Sorge um die jungen Leser bestätigt? 

Zum Glück wurden wir nie dafür abgestraft, abopflichtige Texte zu veröffentlichen. Wir konnten lange Zeit gar keinen direkten Effekt auf unsere Grundreichweite feststellen, auch heute dürfte er gering sein. Das liegt auch daran, dass wir niemandem etwas weggenommen haben. Die abopflichtigen Stücke kamen einfach dazu, wir schlossen sehr lange nichts Existierendes ab. 

 

Welche Anpassungen haben Sie seit dem Start 2017 an Ihrem Bezahlmodell vorgenommen?

Inzwischen setzen wir sehr viel stärker auf Rot. Unser einfaches Abomodell hat sich gut bewährt. Es gibt nur noch ganz wenig Grau, auf der Homepage fast nie. Aufgeben wollen wir die Farbe aber nicht: Das graue Modell erlaubt uns, mit Leuten in Kontakt zu treten, ohne ihnen gleich etwas zu verkaufen. Auf Zeit Online waren in den vergangenen zwölf Monaten mehr als eine Million registrierte Nutzer aktiv. Unser Verlag konvertiert viele davon nach und nach in Abonnenten. 

 

Wer labelt die Inhalte?

Letztgültig die Journalisten, die Zeit Online steuern. Wir haben vor Jahren eine neue Position eingeführt, die noch über den Chefs vom Dienst liegt. Die intern so genannten „Dirigenten“, kurz „Diris“, haben das Gesamtbild im Blick: Wie ist die Nachrichtenlage, wie aktuell sind wir, wo sehen wir schlecht aus, funktioniert die Gesamtkomposition, laufen die einzelnen Geschichten? Wir haben - einerseits aus strategischen Gründen, andererseits aus Ressourcenmangel - sehr früh beschlossen, dass sich der oder die Diri auch selbst um den Erfolg des Abomodells kümmern möge. Erst seit ein paar Wochen haben wir nun auch den ersten Abomanager im Newsroom, der den Dirigenten zuarbeitet. 

 

Gibt es eine künstliche Intelligenz, die schon mal vorauswählt, welche Texte abopflichtig werden? 

Das ist bis heute Handarbeit und Intuition. Wir haben viel Aufwand betrieben, um herauszufinden, ob wir aboträchtige Texte automatisiert erkennen können, alle verfügbaren Daten ausgewertet und jedes sinnvolle statistische Verfahren ausprobiert, bis hin zum Trainieren eines künstlichen neuronalen Netzes, vulgo: einer KI. Die Aufgabe lautet: Du bekommst einen Text mit einer bestimmten Zahl an Signalen - von der Länge über das Genre bis zum Autor, Inhalt, Schlüsselwörter und so weiter. Nimm diese Signale und sag mir: Wie viele Abos macht der Text? Niemand kann das sagen, auch keine Maschine. 

 

Und deswegen bleibt es bei den Dirigenten? 

Ja. Das ist im Grunde klassisches Online-Handwerk: Man guckt, wie's läuft. Und wenn man feststellt, es könnte besser laufen, dreht man an dieser oder jener Schraube. Onlinejournalismus ist schnelles Reagieren, Optimieren, Herumspielen. Und dieses Atmende, das den digitalen Journalismus ausmacht, das funktioniert beim Abo genauso. Eigentlich eine glückliche Erfahrung. 

 

Gibt es trotzdem Erfahrungswerte, welche Themen besonders gut konvertieren? 

Das Fundament der Abos ist die schiere Breite unseres Angebots. Das ist vielleicht auch so ein offen daliegendes Geheimnis: Nur sehr wenige Beiträge generieren massiv Abo-Abschlüsse, die guten Zahlen kommen eher von den vielen kleinen Erfolgen, die viele gute Beiträge bei den vielen speziellen Zielgruppen haben. Wenn ein Text mehr als 100 Abos macht, dann merken wir schon auf. Mehr als tausend sind extrem selten. Am besten funktionieren lebensweltliche Geschichten, also zum Beispiel über Beziehungen und Familie, über Ernährung, Gesundheit und Arbeit - vor allem dann, wenn sie einen speziellen „Zeit“-Ansatz verfolgen. Auch Erziehungs- und Bildungsthemen sind populär. 

 

Welcher Artikel hat am besten verkauft? 

Lange Zeit hielt eine Geschichte über Waldorfkindergärten den Allzeit-Aborekord. Die Autorin hatte eine Art Wutausbruch verfasst und mit der Waldorf-Ideologie abgerechnet. Dieses Beispiel zeigt, wie unsere Leser ticken: Es geht in dem Beitrag nicht einfach um Erziehung, sondern auch um deren Ethik, auch um Ideologiekritik. Nur manchmal geht es auch ganz einfach: Der meistabonnierte Text dieses Jahres ist im Moment der Auftakt unserer Laufserie, die wir mitten in die Kontaktsperre gestartet haben und in der führende Experten Tipps für Einsteiger geben. Das Interesse, welche Texte bei unseren Lesern gut funktionieren, hat längst das gesamte Haus erfasst. Auch die Printkollegen erhalten eine wöchentliche Auswertung der Abozahlen, das Ranking wird oft sogar in der Donnerstagskonferenz der Zeit verlesen, und man trifft immer wieder auf Autoren und Autorinnen, die ihre Abozahlen sehr genau kennen.

 

Interview: Anna von Garmissen ist Freie Journalistin, Schwerpunkt Medien

 

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