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Was Zahlen (Wirtschaft-)Journalisten verraten – 6 Tipps

Was Zahlen (Wirtschaft-)Journalisten verraten – 6 Tipps Nikolaj Schmolcke (Foto: Frank von Wieding)

Für Finanzprofi Nikolaj Schmolcke sind Geschäftsberichte von Unternehmen wie offene Geheimnisse. In der aktuellen „Wirtschaftsjournalist:in“-Ausgabe widmet er sich einem Beispiel aus der Medienbranche.

Frankfurt – Nikolaj Schmolcke behauptet, was viele für ungeheuerlich halten: „Bilanzen sind sexy“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler mit langer Praxiserfahrung (Lufthansa, PwC, Vapiano) in der aktuellen „Wirtschaftsjournalist:in“ im Gespräch mit Roland Karle – und schickt ein betontes: „Wirklich!“ hinterher. Wirklich? Der erste Impuls sagt etwas anderes.

 

Der Mann hat gut reden – schließlich hat er in seinem Leben mehr als hundert Jahresabschlüsse erstellt und somit das große Latinum für Buchhalter und Controller absolviert. Schmolcke kann im Schlaf nicht nur ausbuchstabieren, was immaterielle Vermögenswerte oder latente Steueransprüche bedeuten, sondern auch zielsicher den Aufenthaltsort dieser Kennzahlen in der Bilanz nennen – und vor allem: wie das eine mit dem anderen zusammenhängt.

 

Auf YouTube und gängigen Audioplattformen sind der Buchautor und sein Kollege Oliver Köster „Die Bilanzfluencer“. Dort analysieren sie in ihrem Infotainment-Podcast Finanzberichte von ganz unterschiedlichen Unternehmungen – etwa dem beinahe insolventen Batteriehersteller Varta, der tatsächlich insolventen Signa-Gruppe von René Benko, dem einzigen börsennotierten deutschen Fußballklub Borussia Dortmund, dem Autobauer Tesla und der Stadt Frankfurt. Auch den Lanserhof auf Sylt hat das Duo schon bilanziell auseinandergenommen und seine Erkenntnisse mit dem Handelsblatt geteilt, das in einer Story hinter die „makellose Fassade“ des Wellness-Tempels blickte.

 

Selbst bei Wirtschaftsjournalisten stellen sich mitunter Fluchtreflexe ein, wenn sie es mit Zahlenkolonnen und Begriffen wie Kapitalflussrechnung, werthaltigen Verlustvorträgen oder verzinslichen Ausleihungen an Gesellschafter zu tun bekommen. Doch: Schlaumachen hilft. Wer Bilanzen kompetent durchschaut, weiß innerhalb kurzer Zeit, wie es wirtschaftlich um das betreffende Unternehmen steht – meistens jedenfalls.

 

Bei Wirecard waren die Ungereimtheiten „so irre und so offensichtlich“, sagt Schmolcke, dass der Skandal viel früher hätte auffliegen müssen. Sachdienliche Hinweise gab es genug – öffentlich zugänglich im Bundesanzeiger, der Sammelstelle für Jahresabschlüsse. In den Bilanzen seit 2009 konnte man die vielen Unglaublichkeiten entdecken. „Ein halber Arbeitstag hätte für eine fundierte Analyse ausgereicht“, sagt Schmolcke.

 

Manchmal sind es einzelne Wörter, die zur Wahrheit führen. Bei Wirecard hat der Betrug in der Position der Zahlungsmitteläquivalente stattgefunden, wie Schmolcke in seinem Buch „Offene Geheimnisse“ schreibt. „Die Tücke besteht darin, dass man normalerweise – also vor Wirecard – in der Position Zahlungsmittel und Zahlungsmitteläquivalente keine Manipulation vermutete. Denn nichts ist so einfach nachzuprüfen wie ein Kontostand. Der gute alte Kontoauszug sorgt für Nachweis und Sicherheit.“ Und weil die Position Zahlungsmittel so unverdächtig daherkommt, strahlt sie aus – auf die Zahlungsmitteläquivalente, die über Jahre hinweg nicht genauer analysiert wurden.

 

Nikolaj Schmolcke hat zehn „Fragen an den Jahresabschluss“ formuliert, mit deren Hilfe sich jede Bilanz entschlüsseln lässt. Und zu welchen Erkenntnissen gelangt ein Finanzprofi wie er, der die Angaben und Zahlen aus einem Jahresabschluss – in diesem Fall der DvH Medien – in Worte übersetzt?

 

Zur von Dieter von Holtzbrinck (DvH) gegründeten Gruppe gehören unter anderem das „Handelsblatt“, der Berliner „Tagesspiegel“ und 50 Prozent der Verlagsgruppe „Zeit“. Gesellschafter der anderen Hälfte der Zeit ist Georg von Holtzbrinck. Wie ein Finanzprofi wie Nikolaj Schmolcke auf die Zahlen der DvH blickt:

 

1. Was gibt es zu sehen?
Für das Jahr 2023 liegt ein vollständiger Konzernabschluss mit Anhang und Lagebericht vor, der nach den Vorschriften des Handelsgesetzbuchs (HGB) erstellt und am 28. April 2025 von EY testiert wurde. „Das ist eine ordentliche Abschlussgeschwindigkeit, wie es sich für einen großen Konzern gehört“, sagt Nikolaj Schmolcke. Unternehmen des DAX sind schneller, aber DvH Medien wird auch nicht an der Börse gehandelt.

 

Interessant findet der Finanzprofi, dass der Konzernabschluss mit einem Anlagespiegel beginnt. Die Darstellung gehöre zwingend zu einem Konzernabschluss, aber mit dem Spiegel zu beginnen, sei sehr ungewöhnlich. Schmolcke spekuliert: „Vielleicht möchte man flüchtige Leser abschrecken?“

 

2. Wie lief das Geschäft?
Den alarmierenden Satz „Nicht durch Eigenkapital gedeckter Fehlbetrag“ sucht man vergebens. Die Zeit und das Handelsblatt sind Instanzen. Der Umsatz beläuft sich auf 547 Millionen Euro (Vorjahr: 557 Mio. Euro). „Hohes Niveau, keine Sprünge – das ist vergleichbar mit Medienhäusern wie Spiegel und FAZ“, so Schmolcke.

 

Aufgeführt sind auch die „Umsatzerlöse nach Tätigkeitsbereichen“. Daraus geht hervor, dass der Vertriebsumsatz zum Vorjahr leicht (plus 0,2 Prozent) auf 288,3 Millionen Euro gestiegen ist, während das Anzeigengeschäft mit 125,3 Millionen Euro rund 5 Prozent eingebüßt hat. Die unter „Übrige“ gefassten Aktivitäten belaufen sich auf 133,5 Millionen Euro (minus 2,8 Prozent).

Deutlich wird: Der Lesermarkt mit einem Anteil von 53 Prozent am Gesamtumsatz ist inzwischen wirtschaftlich am wichtigsten – und hat zugelegt. Das zeigt ein Blick in die Bilanz von 2019, als der Vertriebserlösanteil erst bei 44 Prozent lag.

 

3. Wie geht’s dem Unternehmen?
Der Jahresüberschuss beläuft sich auf 11,7 Millionen Euro (Vorjahr: 37,5 Mio. Euro). Der Rückgang um rund 26 Millionen Euro resultiert aus niedrigeren Umsätzen, gestiegenen Kosten für Personal und bezogenem Material (typisch für 2023) sowie signifikanten Steuerzahlungen in Höhe von 16,1 Millionen Euro (Vorjahr: 9,3 Mio. Euro). „Man schlägt sich halt so durch“, kommentiert Schmolcke.

 

Der Lagebericht verweist auf ein schwaches wirtschaftliches Umfeld und rückläufige Anzeigenerlöse. Es ergibt sich eine Umsatzrendite von gut 2 Prozent. „Das ist ein enges Hemd“, so Schmolcke.

 

Was ihm auffällt: Auf den Konzernjahresüberschuss in besagter Höhe von 11,7 Millionen Euro folgen in der nächsten Zeile „Auf nicht beherrschende Anteile entfallende Gewinne“ in Höhe von 23,4 Millionen Euro (Vorjahr: 25,5 Mio. Euro). Die werden vom Konzernjahresüberschuss abgezogen. Dadurch verbleibt DvH ein Verlust von 11,7 Millionen Euro in der letzten Zeile der Gewinn- und Verlustrechnung.

„Das ist in dieser Form ungewöhnlich und deutet auf Vereinbarungen zwischen Gesellschaftern hin, deren Natur weder Anhang noch Lagebericht erhellen“, sagt der Bilanzprofi. Zudem findet sich im Eigenkapital ein Verlustvortrag von 108,5 Millionen Euro (Vorjahr: 117,3 Mio. Euro).

 

4.  Wie wird der Gewinn gestaltet?

5.  Was passiert mit dem Gewinn?

6. Wie verschuldet ist das Unternehmen?

Zu den Tipps


Must-Reads in der „Wirtschaftsjournalist:in“

  • VOM FAN ZUR CHEFREDAKTEURIN. Isabell Hülsen steht seit einem Jahr an der Spitze des „Manager Magazins“. Ihre Pläne für Print und Digital, neue Zielgruppen und was eine echte mm-Story für sie ausmacht.
  • KLIMA-THEMEN. War es das mit dem Hype?
  • FOCUS MONEY. Relaunch und neuer Erscheinungstag
  • INSIDE SIGNA.  Die Recherchen zur Benko-Pleite