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Corona-Krise: 9 Fragen, die sich jeder Journalist stellen sollte

Corona-Krise: 9 Fragen, die sich jeder Journalist stellen sollte Stephan Russ-Mohl.

Haben die Medien mit ihrer Corona-Berichterstattung mehr Angst und Schrecken geschürt als nötig? Stephan Russ-Mohl stellt in einem eben veröffentlichten Dossier 9 Fragen, die sich auch jeder Journalist stellen sollte.

Berlin – Als Corona alle anderen Themen aus der Medienberichterstattung verdrängt hatte und allein schon diese „Thematisierungs-Monomanie“ Kommunikationswissenschaftler als kritische Stimmen hätte auf den Plan rufen müssen, gab es für sie kaum eine Chance, sich Gehör zu verschaffen, analysiert Stephan Russ-Mohl. Immerhin sei es drei Medienforschern trotzdem gelungen, bereits in dieser Berichterstattungsphase der Schockstarre an die breitere Öffentlichkeit durchzudringen: Otfried Jarren, Klaus Meier und Bernhard Pörksen, schreibt der emeritierte Professor für Journalistik und Medienmanagement. Und dies habe die Frage aufgeworfen, wo sich „Hunderte weiterer Medien- und Kommunikationsforscher im deutschsprachigen Raum verstecken, die von den Medien eigentlich gerade jetzt als Quellen zur Einschätzung und Erklärung der Kommunikation rund um Corona genutzt werden sollten“.


Russ-Mohl hat dazu ein Dossier verfasst. Darin werden zunächst Beiträge der drei sichtbaren Kollegen präsentiert. Dann folgen Links zu Fachkolleginnen und Kollegen, welche belegen, wie wichtig Diskussionsbeiträge von Medienforschern sein können, um die Corona-Kommunikation in ihren Facetten zu verstehen und zu verbessern. Zum Schluss fügt Russ-Mohl eine Liste eigener Fragen hinzu, die mehr mediale Aufmerksamkeit verdienen würden. Die Punkte des Dossiers im Überblick:


Erste Stimmen von Medienforschern während der Corona-Schockstarre
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk habe in Zeiten von Corona „seine Rolle noch nicht gefunden“, erklärt Otfried Jarren. Der Medienforscher beklagte unter anderem, ARD und ZDF präsentierten immer denselben, zu kleinen Expertenkreis und berichteten zu regierungsnah.
Der Eichstätter Journalistik-Professor Klaus Meier hat in längeren Interviews – unter anderem auf newsroom.de –  auf Probleme der Corona-Berichterstattung aufmerksam gemacht, zum Beispiel, dass Journalismus deutlich zu machen habe, dass „fast nichts“ eindeutig und „alternativlos“ sei. Meier hat später zusammen mit dem Schweizer Medienforscher Vinzenz Wyss (ZHAW Winterthur) seine Analyse vertieft. Die beiden Journalistik-Experten bemängeln insgesamt fünf Defizite der Corona-Berichterstattung, darunter insbesondere den unreflektierten Umgang mit Zahlen.

Bernhard Pörksen (Universität Tübingen) ortet zusammen mit dem Journalisten Marc Brost „eine dunkle Seite des Ganzen. Den Schnappatmungs-Journalismus. Zuspitzung und Dramatisierung“.


Weitere Diskussionsbeiträge
Eine erste Inhaltsanalyse zur Corona-Berichterstattung hat Daria Gordeeva, Doktorandin bei Michael Meyen an der Universität München, vorgelegt. Sie gelangt zu der Erkenntnis, die Kriegs und Feindrhetorik der von ihr untersuchten Medien (Spiegel, SZ, FAZ und Bild), treibe uns – wie in einem richtigen Krieg – in die „schützenden Arme der Exekutive“. Besonders gründlich hat Michael Haller die bisherige Corona-Berichterstattung analysiert: Der „informatorische Leerlauf“ mache es vielen Menschen „noch schwerer, die als existenzbedrohend erlebte Ungewissheit auszuhalten.“


Zum Schluss: Herdentrieb im Kampf um Aufmerksamkeit? 9 Fragen, die sich auch jeder Journalist stellen sollte:

 

1. Panikmache: Haben die Medien mit ihrer Corona-Berichterstattung mehr Angst und Schrecken geschürt als nötig?

 

2. Quellenvielfalt und Quellenprüfung: Könnte es sein, dass auch in größeren Redaktionen Wissenschafts- und Medienjournalisten fehlen, die angemessen für Quellenvielfalt sorgen sowie einordnen und kontextualisieren können, was ihnen von Virologen und Epidemiologen zugeliefert wird, und wie die Medien mit diesen Informationen umgehen?

 

3. Transparenz der Berichterstattungs-Bedingungen: Ist der Journalismus, dem neuerdings von höchster Stelle Systemrelevanz attestiert wird, hinreichend auf die Pandemieherausforderung vorbereitet?

 

4. Grenzen internationaler Vergleiche: Warum vergleichen Journalisten weiterhin international Corona-Tote und -Infizierte – obschon bekannt ist, dass die Zahlen auf unterschiedliche Weise erhoben werden und damit Vergleiche nicht aussagekräftig sind?

 

5. Wirkungsmacht von Bildern versus Risiko-Statistiken: Wissen Corona-Berichterstatter um die Übermacht ihrer Bilder im Vergleich zur begrenzten Macht von Statistiken und Zahlen, welche helfen könnten, Risiken realistisch einzuordnen?

 

6. Kontextualisierung von Rettungsprogrammen: Weshalb wird so selten versucht, die Fördersummen, mit denen derzeit die Regierungen um sich werfen durch Vergleiche zu veranschaulichen und begreifbarer zu machen?

 

7. Selbstgestrickte Umfragen: Warum traktieren uns Redaktionen immer wieder mit selbstgestrickten Umfragen, deren Aussagewert gleich null und deren Unterhaltungswert fragwürdig ist?

 

8. Herdentrieb: Wie lässt sich die Selbstgleichrichtung der Corona-Berichterstattung in den Leitmedien bis zum Shutdown erklären?

 

9. Journalismus als Frühwarnsystem: Haben wirklich nur die Bundesregierung und ihre Geheimdienste die Relevanz von Corona lange unterschätzt?

 

Das Dossier wird online auf der Website des Europäischen Journalismus-Observatoriums publiziert.

 

Der Autor: Stephan Russ-Mohl ist emeritierter Professor für Journalistik und Medienmanagement an der Università della Svizzera italiana in Lugano (Schweiz) sowie Gründer des 12-sprachigen European Journalism Observatory. Er ist Medienkolumnist beim„Tagesspiegel“, beim „Schweizer Journalist“ und bei „Der österreichische Journalist“ sowie langjähriger Mitarbeiter der „Neuen Zürcher Zeitung“. Jüngste Buchpublikation: Die informierte Gesellschaft und ihre Feinde. Warum die Digitalisierung unsere Demokratie gefährdet, Köln: Herbert von Halem Verlag, 2017