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Wie Christian Jakubetz den Amoklauf von München erlebte: Einfach mal abwarten wäre eine Idee

Wie Christian Jakubetz den Amoklauf von München erlebte: Einfach mal abwarten wäre eine Idee Christian Jakubetz. Foto: Heike Rost

Der Journalist Christian Jakubetz lebt in München. Was er an dem Abend des OEZ-Amoklaufs erlebt hat, was er gelernt hat und warum man die Sozialen Netzwerke auch hassen darf, gerade bei solchen Ereignissen.

München - Innerhalb weniger Minuten bin ich gestern Bestandteil eines Geschehens am OEZ geworden, über das fast die ganze Welt gesprochen hat. Als Betroffener ebenso wie als Journalist. Über einen Abend, an dem ich so viel wie noch nie über Journalismus und den Menschen als solchen gelernt habe…

 

Meine Münchner Wohnung liegt im Stadtteil Moosach. In der unmittelbaren Nähe ist die U-Bahn-Station Olympia-Einkaufszentrum. Im OEZ war ich etliche Male, im nebenan liegenden McDonalds habe ich am Dienstag Abend nach einem Konzertbesuch noch schnell ein paar Pommes gegessen. Ich kenne Moosach natürlich in- und auswendig. Und ich habe mir immer gedacht: Hier ist München wie eine nette Kleinstadt. Manchmal, wenn ich vom Flughafen oder vom Hauptbahnhof kam, dachte ich mir zudem: Hier bist du sicher. Man greift einen Flughafen an oder einen Bahnhof. Aber Moosach? Den McDonalds da? Oder das OEZ? Moosach ist ein stinknormaler Stadtteil, in dem stinknormale Leute ein stinknormales Leben führen.

 

Als gestern Abend die ersten Push-Meldungen kamen, da wirkte das alles: surreal. Schüsse, womöglich Terrorismus, vielleicht Todesopfer in meiner Nachbarschaft? Ich war nicht da, als es passierte, umso unwahrscheinlicher wirkte es, als die ersten Bilder im TV und in den sozialen Netzwerken zu sehen waren: In meinem Moosach drehte die Welt plötzlich durch. Und die Menschen in den sozialen Netzwerken auch.

 

Man muss soziale Netzwerke großartig finden, wenn sie so funktionieren wie gestern in ihren besten Momenten. Etliche Münchner boten bei Twitter unter dem Hashtag #offeneTür Unterkünfte für Menschen an, die gestrandet waren. Die Polizei München zeigte, wie man digitale Information in solchen Zeiten macht. Ausführlich, eindringlich und trotzdem so unaufgeregt, wie es in einer solchen Situation nur geht. Bei Facebook gab es eine Funktion, in der man sich selbst und andere markieren und durchgeben konnte, dass man in Sicherheit sei.

 

Die Dreckschleuder auf Hochtouren

 

Man kann soziale Netzwerke aber auch hassen für den Dreck, den sie in solchen Momenten auskotzen. Die Gerüchte haben sich im Sekundentakt ins Absurde gesteigert, innerhalb weniger Minuten war u.a. die Rede von einem Bombenanschlag mit 250 Toten. Dass sich auch die üblichen Hetzer zu Wort meldeten, die meinten, jetzt müsse aber endlich mal Schluss mit dieser Willkommenskultur,war kaum anders zu erwarten. Was war eigentlich mit Frau von Storch und ihrem Adjutanten? Besser wird sowas leider auch nicht durch die Kollegen vom „Münchner Merkur“, die am Abend kommentierten, wie perfide es sei, ausgerechnet München zum Ziel des bestialischen islamischen Terrorismus zu machen.

 

Auf der anderen Seite, so funktioniert der Journalismus nunmal im Zeitalter der rasenden Live-Berichterstattung. Ich war gestern Abend und heute nacht für Stunden bei BBC World und Deutsche Welle TV on air. Jeden zweiten Satz musste ich mit „not confirmed“ beenden. Und obwohl ich mich natürlich bemüht habe, ausschließlich (vermeintliche) Fakten zu schildern, habe ich Falschmeldungen in die Welt gepustet: nämlich die, dass es auch am Stachus zu einer Schießerei gekommen ist und dass drei Männer am OEZ geschossen haben.

 

Jetzt, mit dem Abstand von einer paar Stunden, weiß ich nicht mehr, warum ich diese Meldungen abgesetzt habe, ohne sie gegenzuchecken. Allerdings, ohne dass das eine Ausrede sein soll: Man steht da plötzlich mehr oder weniger unvorbereitet und Radio- und TV-Stationen aus der ganzen Welt wollen von dir im Minutentakt etwas Neues haben. Ernsthaft hätte ich nicht mehr sagen können außer: Es gab eine Schießerei, es gibt wohl Tote, nein, wir wissen nichts über den oder die Täter. Aber so kann man natürlich keine Live-Schalte bestreiten und außerdem: Ich war an dem Abend beides, Betroffener und Journalist. Und ich habe an mir selbst festgestellt, wie groß mein Bedürfnis nach irgendwelchen Informationen ist, wie ich alles aufgesaugt habe ohne jegliche professionelle Distanz. Wie soll man auch distanziert und ruhig bleiben, wenn in deiner Nachbarschaft neun Menschen erschossen werden?

 

Trotzdem muss man das, zumindest als Journalist (als Betroffener kann man das von mir schlecht verlangen, finde ich). Gestern Abend haben sich über Stunden Gerüchte und Spekulationen überschlagen, obwohl die Polizei immer wieder über die sozialen Netzwerke versucht hat zu beruhigen. Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, wenn man dann als Journalist noch snapt und twittert und haufenweise eher unbestätigtes Zeug in die Kanäle haut, immer wieder versehen mit einem relativierenden „offenbar“. Natürlich, die Maschinerie Fernsehen braucht lange, bis sie läuft (siehe hierzu auch diesen Text von Stefan Niggemeier), aber wenn sie läuft, dann halbwegs verlässlich. Die Dinge, die ich gestern in den sozialen Netzwerken gefunden haben, waren eben zu einem beträchtlichen Teil auch falsch, spekulativ und irreführend. Davon abgesehen wird sich die Polizei sicher gefreut haben, wenn sie in einer solchen Situation irgendwelche Handy-Reporter davon abhalten muss, den Einsatz zu stören.

 

Trotzdem, dieser dringende Wunsch von Menschen nach irgendwas neuem ist so überwältigend groß, dass man als Journalist geneigt ist, ihm nachzugeben. In irgendeiner Schalte heute Nacht bin ich gefragt worden, ob es nicht erwartbar gewesen sei, dass der Terror auch nach Deutschland kommt. Sagen hätte ich müssen: Wir wissen ja noch gar nicht, ob es sich um Terror handelt. Aber wenn alles etwas Neues hören wollen, ist die Antwort, man müsse das doch alles erstmal abwarten, nicht sehr gefragt.

 

Einfach mal abwarten, das wäre eine Idee

 

Natürlich steht man auch nach einem Abend wie gestern wieder vor der Frage: Was darf man zeigen, was nicht? Was ist Information, Dokumentation – und was ist blanker Voyeurismus, wo beginnt die Journalisten-Show? Gestern Abend konnte ich für mich selbst die Fragen relativ leicht beantworten: Ich will – weder als Journalist noch als Betroffener – keine Bilder von abgedeckten Leichen sehen. Ich halte es für skandalös, wenn Journalisten trotz mehrfacher eindringlicher Bitte der Polizei, keine Bilder zu posten, die dem Täter potentielle Informationen geben könnten, genau das tun. Schon klar, wacklige Handybilder, die eine Straßenkreuzung in Moosach zeigen, sind wenig spektakulär. Trotzdem ist es kein Journalismus, wenn man wahl- und atemlos irgendwas postet. Dass die Polizei dann auch noch dazu auffordern musste, keine Bilder der Opfer zu zeigen, was soll man dazu noch sagen?

 

Mein persönlicher Zwiespalt ist auch jetzt, Stunden später, nicht aufgelöst. Nüchtern betrachtet wissen wir nahezu nichts über diese Tat. Wir wissen nichts über den Täter, nichts über seine Motive. Es ist unsinnig, jetzt über islamistischen Terror und die Konsequenzen daraus zu spekulieren. Man müsste das tun, was weder Journalisten noch die Öffentlichkeit gut können: einfach mal abwarten.

 

Mein Telefon hat allerdings auch heute morgen schon etliche Male geläutet und man fragt mich, wie die Dinge einzuschätzen seien.

 

Was weiß denn ich? Als Betroffener möchte man an einem solchen Tag einfach nur in Ruhe gelassen werden. Und als Journalist trägt man trotzdem dazu bei, dass sich dieses Rad aus Information, Spekulation und Ratlosigkeit immer weiter dreht.

 

Vielleicht sollte ich einfach mal raus an die frische Luft.

 

Christian Jakubetz


Newsroom.de-Hinweis: Der Beitrag ist zuerst im Blog von Christian Jakubetz erschienen.