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Gipfel der Naivität: Warum die SZ-Redaktion mit ihren neuen Grundsätzen danebenliegt

Gipfel der Naivität: Warum die SZ-Redaktion mit ihren neuen Grundsätzen danebenliegt Markus Wiegand

Das Wertepapier der „Süddeutschen Zeitung“ zeigt die Zerrissenheit einer ganzen Branche, meint „kress pro“-Chefredakteur Markus Wiegand. Wer entscheidet über die Inhalte: die Nutzer oder die Redakteure?

München – Anfang Juli hat die Redaktion der „Süddeutschen Zeitung“ („SZ“) ein Wertepapier ins Netz gestellt. Darin sind in zehn fein ausformulierten Grundsätzen allerlei Selbstverständlichkeiten aufgezählt. Etwa, dass die Mitarbeiter einander zuhören wollen. Es ist ein Papier der Selbstvergewisserung in schwierigen Zeiten und vermutlich vor allem dadurch zu erklären, dass sich die „Süddeutsche“ im vergangenen Jahr von ihrer Online-Chefin Julia Bönisch trennte und dabei heftige Grabenkämpfe zwischen Modernisten und Traditionalisten offenbarte. In einem Punkt zeigt sich die Zerrissenheit einer Redaktion im Wandel besonders deutlich. Wir gehen den bedeutendsten Abschnitt mal durch. 

 

„Die Redaktion versteht Zahlen und Daten als Chance und nutzt sie, ohne sich zu deren Sklaven zu machen.“

Diesen Satz hat die Redaktion als Überschrift für Punkt 8 gewählt. Hier schwingt bereits als Unterton mit, dass einige in der Vergangenheit wohl etwas zu sklavisch auf die Nutzungszahlen und Aboverkäufe geschaut haben. 

 

„Die digitale Metrik ist ein wichtiger Anhaltspunkt zur Themenfindung und -setzung. Die Redaktion versteht sie als Möglichkeit, um Lesegewohnheiten und Interessen zu begreifen.“

Der Ton setzt sich fort. Anhaltspunkt und Möglichkeit? Das hört sich nicht gerade so an, als wenn sich die Redaktion konsequent an den Bedürfnissen der Kundschaft orientieren möchte.

 

„Wir wollen stärker als bislang zu den Leserinnen und Lesern gehen, wir wollen für unsere Inhalte werben und in interdisziplinären Teams aus Redaktion und Verlagsabteilungen arbeiten.“

Ein guter Vorsatz und ein Eingeständnis, dass das alles bisher zu wenig passiert ist. Bemerkenswert: Die Redaktion nimmt sich vor, mit dem Verlag zusammenzuarbeiten. Für die „SZ“ ist das schon fast ein revolutionärer Akt. 

 

„Die ,SZ‘ darf sich nicht nur am Erfolg von Einzeltexten orientieren, sondern muss in ihrer Gesamtheit und auf allen Kanälen den Anspruch haben, die Welt möglichst umfassend abzubilden. Die ,SZ‘ wird niemals Themen weglassen, nur weil sie keinen kommerziellen Erfolg versprechen.“

Das ist für eine der besten Redaktionen des Landes von erstaunlicher Schlichtheit. Denn die „SZ“ lässt bereits heute jeden Tag Themen weg, die keinen Erfolg versprechen. Es gibt jeden Tag: Mehr Bayern als Afrika. Mehr München als Kuala Lumpur. Mehr Fußball als Cricket. 

 

„Die Qualität eines Textes und dessen kommerzieller Erfolg sind grundsätzlich getrennt zu betrachten.“

Mit dem letzten Satz der Passage ist der Gipfel der Naivität erreicht. Das Gegenteil ist richtig: Die Qualität eines Textes und dessen kommerzieller Erfolg können nicht getrennt voneinander betrachtet werden, jedenfalls dann nicht, wenn die Redakteurinnen und Redakteure des Blattes für ihre journalistischen Arbeiten bezahlt werden möchten. 

 

Sicher: Journalismus hat eine gesellschaftliche Verantwortung. Medien sollten nicht nur Themen aufgreifen, die interessieren. Journalisten müssen auch Geschichten erzählen, die interessieren sollten. Aber nicht nur und nicht als alles entscheidendes Leitmotiv. Journalisten haben die Wahl, ob sie sich als Dienstleister verstehen oder als Oberlehrer. In der Redaktion der „SZ“ scheint es noch etliche zu geben, die der zweiten Möglichkeit anhängen und den Nutzern vorschreiben wollen, was sie lesen sollen.

 

Was die „Zeit“ anders macht als die „SZ“ 

Wer die Transformation so wie die „SZ“-Redaktion angeht, der gefährdet die Grundlage seiner Existenz. Denn künftig werden Medien noch stärker über das Geld der Nutzer finanziert werden. Die Fähigkeit, Inhalte digital zu verkaufen, wird entscheidend dafür sein, wie groß Redaktionen künftig sein werden. Es ist ein Segen und kein Fluch, wenn die Branche lernt, was die Nutzer wollen. 

 

Einen ganz anderen Zugang zum Thema zeigt „Zeit“-Online-Chef Jochen Wegner. Im Titelinterview dieser kress pro-Ausgabe sagt er: „Das Interesse, welche Texte bei unseren Lesern gut funktionieren, hat längst das gesamte Haus erfasst. Auch die Printkollegen erhalten eine wöchentliche Auswertung der Abozahlen, das Ranking wird oft sogar in der Donnerstagskonferenz der Zeit verlesen, und man trifft immer wieder auf Autoren und Autorinnen, die ihre Abozahlen sehr genau kennen.“ Fast alle Abteilungen der „Zeit“ konzentrierten sich inzwischen auf das Ziel des Aboverkaufs, sagt Wegner. Klingt im Gegensatz zur Haltung der „SZ“-Redaktion erfrischend pragmatisch.

 

Der Text von Chefredakteur Markus Wiegand bildet das Editorial zur neuen „kress pro“-Ausgabe