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"Sündenfall von Gladbeck" brachte neuen Pressekodex bei Verbrechen

Als die Geiselgangster von Gladbeck vor 20 Jahren nach ihrem missglückten Banküberfall Deutschen in Atem hielten, ließen auch viele Reporter ihre Hemmungen fallen.

Essen (dpa) - Für Sigrun Müller-Gerbes vom Deutschen Presserat war es der zentrale Sündenfall des deutschen Journalismus in den vergangenen Jahrzehnten: Als die Geiselgangster von Gladbeck am 16. August 1988 nach ihrem missglückten Banküberfall das ganze Land 54 Stunden lang in Atem hielten, ließen auch viele Reporter ihre Hemmungen fallen: Sie interviewten die bewaffneten und großspurig auftrumpfenden Täter direkt neben den Geiseln, die um ihr Leben zitterten, ließen sich für Verhandlungen zwischen Polizei und Gangstern einspannen und hinderten die Polizei am gewaltsamen Zugriff, weil sie in der Kölner Fußgängerzone viel zu dicht um den Fluchtwagen herumstanden.

Bei der bizarren "Pressekonferenz" der Gangster an ihrem Fluchtfahrzeug in Köln forderte ein Fotograf Dieter Degowski sogar auf, der später getöteten Silke Bischoff die Waffe noch einmal an den Kopf zu halten - er hatte das Bild verpasst. In nachträglich schwer verständlicher Kumpanei wiesen Journalisten die Gangster darauf hin, dass in einer Nebenstraße ein Notarztwagen vorgefahren war - damit war ein möglicher Polizeizugriff verraten. Als die Entführer dann schnell aus Köln heraus wollten, stieg ein Kölner Boulevardreporter mit ins Auto und wies ihnen den Weg aus der Stadt. Er habe in diesem Moment die Kontrolle verloren und wie in Trance gehandelt, erklärte er später.

Die heftige öffentliche Debatte nach dem blutigen Ende des Dramas befasste sich natürlich mit den Pannen und Missverständnissen bei der Polizei; daneben stand aber vor allem auch die Presse am Pranger. Das erste Ergebnis war eine Änderung des Pressekodex beim Deutschen Presserat. Seitdem sind Interviews mit Tätern während des Tatgeschehens verboten, die die Presse zum Werkzeug von Verbrechern machen können; wer sie dennoch führt, muss mit einer offiziellen Rüge seines Mediums rechnen.

Mindestens genauso wichtig wie diese Änderung seien nach Gladbeck aber auch die Diskussionen in den Redaktionen gewesen, sagt Redakteurin Müller-Gerbes, die bei der "Neuen Westfälischen" (Bielefeld) arbeitet. "Da gab es ernsthafte Reflexion, die jetzige Journalisten-Generation hat Gladbeck im Hinterkopf." Vergleichbares sei seitdem ja auch nicht mehr vorgekommen. Für den journalistischen Nachwuchs, der mit deutlich mehr Konkurrenzdruck und den durch das Internet beschleunigten Produktionszeiten aufwächst, gilt das nach Müller-Gerbes' Einschätzung aber nicht automatisch. "Den Jüngeren muss man es immer wieder vor Augen halten", fordert sie.

Dabei sehen Medienwissenschaftler wie der Journalismus-Professor Kurt Weichler von der Fachhochschule Gelsenkirchen - nur wenige Kilometer vom damaligen Tatort entfernt - aber durchaus noch Nachholbedarf. "Die Ethik-Maßstäbe des Journalismus müssen fester Bestandteil der Ausbildung werden", sagt er. Das sei an den Hochschulen gesichert, bei der praktischen Ausbildung im Volontariat gebe es aber noch sehr große Unterschiede.

Die Polizei hat bei Großlagen ihren Umgang mit der Presse völlig verändert. Heute wird so schnell wie möglich und sehr weiträumig abgesperrt, wie zuletzt Mitte August 2007 bei den sechsfachen Mafia- Morden in Duisburg zu beobachten war. Zugleich versuchten die Behörden dort, den Informationshunger der Medien mit Verbindungsbeamten am Tatort und einer schnellen Pressekonferenz noch am gleichen Tag kontrolliert zu stillen. In anderen Fällen wie etwa der Geiselnahme von Celle nur drei Jahre nach Gladbeck hatte die Polizei dagegen den Nachrichtenfluss rapide beschränkt. "Nachrichtensperren darf es nicht geben. Das Vorgehen der Polizei muss nachvollziehbar bleiben", sagt Müller-Gerbes dazu.

Ob Entgleisungen der Presse wie in Gladbeck dauerhaft zu verhindern sind - dazu wollen die Experten keine Prognose abgeben. "Es gibt jetzt viel mehr Medien als vor 20 Jahren, und zu den Profis gesellen sich Amateure, die fürs Internet arbeiten und Laien, die mit der Handykamera das Bild ihres Lebens schießen wollen", gibt Weichler zu bedenken. "Es hängt auch stark von den Vorgesetzten ab, wie Redaktionen in der Krise agieren", sagt Müller-Gerbes vorsichtig. "Heute wär alles noch zehnmal schlimmer", sagt ein Fotograf der 1988 in Köln dabei war.