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Emotional überfordert: Wie Journalistinnen und Journalisten mit einer unlösbaren Situation umgehen

Emotional überfordert: Wie Journalistinnen und Journalisten mit einer unlösbaren Situation umgehen Attila Albert

Vom stillen Rückzug über den Entschluss zu helfen bis zum Welterklärertum: Medienprofis nutzen unterschiedliche Strategien, um emotional fordernde Situationen zu bewältigen. Mediencoach Attila Albert über die Vor- und Nachteile verschiedener Wege, wenn sich ein Problem nicht sofort lösen lässt.

Berlin – Es gehört zum journalistischen Beruf, regelmäßig mit dramatischen Ereignissen konfrontiert zu sein. Insbesondere als Nachrichtenredakteur oder Reporter, aber auch als aufmerksamer Beobachter aktueller Ereignisse, über die man nicht selbst berichtet. Vieles kann man mit professioneller Distanzierung auf Abstand halten. Aber irgendwann wird es jedem zu viel. Wie unterschiedlich Medienprofis auf emotionale Überforderung reagieren, lässt sich bei den Branchen- und Redaktionskollegen beobachten, aber auch an einem selbst: Vom stillen Rückzug über den Entschluss zu helfen bis zum Welterklärertum. Jede dieser Strategien hilft bei der Bewältigung und hat dabei ihre eigenen Vor- und Nachteile.

 

Ebenso zeigt jeder in seinem privaten Leben ein typisches Reaktionsmuster, wenn „alles zu viel wird“. Etwa in einer schwierigen Beziehung, wegen finanzieller Sorgen oder nach einer Trennung. Entscheiden Sie anhand der nachfolgenden Beschreibungen, was bisher für Sie typisch ist, wenn Sie sich emotional überfordert fühlen. Sie finden darin jeweils eine erste Empfehlung. Grundlegend verbessern Sie Ihr Herangehen, wenn Sie sich das Reaktionsmuster erschließen, das in dieser Aufzählung direkt danach folgt. Beispiel: Bisher weichen Sie unangenehmen Realitäten meistens lieber aus (Muster 3). Sie entwickeln sich weiter, wenn Sie stattdessen mehr für andere tun, etwa durch ein Ehrenamt (Muster 4).

 

1. Strategie: Rückzug – kleine Chancen nutzen

Manche Medienprofis fühlen sich schnell überrollt von den Ereignissen und empfinden sich dabei selbst als hilflos und ausgeliefert. Typische Reaktion: Rückzug. Sie deaktivieren z. B. ihre Social-Media-Konten, meiden die Nachrichten und Diskussionen. Bevorzugtes journalistisches Format: Ich-Geschichten, um die eigene Betroffenheit auszudrücken und loszuwerden. Vorteil: Sie schirmen sich mit wenig Aufwand ab, können sich so erholen. Nachteil: Die Gefahr, ganz passiv zu werden und an der Welt zu verzweifeln. Ihr persönliches Potenzial: Kleine Chancen, die anfangs unbedeutend scheinen, erkennen und nutzen.

 

2. Strategie: Angriff – andere verstehen lernen

Andere weichen vor allem auf Schuldzuweisungen und Kritik aus und empfinden das als Entschiedenheit („Klare Kante!“). Typische Reaktion: Angriff. Sie weisen pausenlos andere zurecht, z. B. auf Social Media, loben aber auch. Bevorzugtes Format: Kommentar, um für sich und andere Klarheit herzustellen. Vorteil: Sie ordnen eine unklare, komplexe Situation durch Vereinfachung, reduzieren damit Ihre Anspannung. Nachteil: Ständiger Streit und manche Fehleinschätzung. Die Welt ist nicht nur „gut“ oder „schlecht“, „richtig“oder „falsch“. Ihr persönliches Potenzial: Andere Ansichten verstehen und schätzen lernen.

 

3. Strategie: Verdrängung – Mittel umschichten

Die dritte Strategie ist, sich abzulenken und so den unangenehmen Realitäten zumindest zeitweise auszuweichen. Typische Reaktion: Verdrängung. Sie planen z. B. lieber den nächsten Urlaub oder sehen sich eine Netflix-Serie an, obwohl es Wichtigeres zu tun gäbe. Bevorzugtes Format: Lifestyle-Empfehlungen, weil das Schöne und Aufregende Ihnen die Anspannung nimmt, Sie beruhigt und belebt. Vorteil: Sie erhalten sich Ihre Lebensfreude und Kraft. Nachteil: Schlechtes Gewissen und manches ewig aufgeschobene Problem. Ihr persönliches Potenzial: Mehr Zeit, Geld und Kraft von der Ablenkung zur Problemlösung umschichten (z. B. durch eine Spende oder freiwillige Mitarbeit wie Mentoring).

 

4. Strategie: Helfen – Verantwortung zurückgeben

Manche Medienprofis denken in schwierigen Situationen immer zuerst an andere, wollen sie unterstützen. Typische Reaktion: Sie machen sich die Probleme anderer zu eigen, geben Tipps und packen sofort selbst mit an. Bevorzugtes Format: Hilfsaktionen, um anderen das Leben zu erleichtern. Vorteil: Sie verbessern tatsächlich die Lage, sind dann auch stolz auf sich und werden gelobt. Nachteil: Sie fühlen sich für alles verantwortlich und übernehmen sich deshalb regelmäßig. Ihr persönliches Potenzial: Übernommene Verantwortung wieder zurückgeben, auch wenn noch nicht alles perfekt ist, Hilfen also immer begrenzen.

(Wenn Ihnen die Balance zwischen Hilfsbereitschaft und Eigenverantwortung anderer schwer fällt, lesen Sie mehr dazu in meinem Ratgeber „Ich mach da nicht mehr mit“.)

 

5. Strategie: Pragmatismus – mehr Verständnis zeigen

Andere schrecken selbst die schwierigsten Situationen nicht. Sie behalten ihre Zuversicht und gehen die Sache pragmatisch an. Typische Reaktion: Sie analysieren die Lage, planen die nächsten Schritte und suchen sich Unterstützer. Bevorzugtes Format: Ratgeber, um konstruktive Lösungen zu erklären und ihre Umsetzung zu begleiten. Vorteil: Sie bleiben selbstbestimmt, motivieren sich und andere. Nachteil: Die enttäuschende Entdeckung, dass viele ihre Probleme gar nicht lösen wollen. Ihr persönliches Potenzial: Mehr Verständnis für diejenigen, die nicht so stark und klar sind wie Sie, aber trotzdem einen Beitrag leisten.

 

6. Strategie: Mitgefühl – konkret etwas verbessern

Manche Medienprofis fühlen mit der ganzen Welt mit. Jedes Problem – und sei es tausende Kilometer entfernt – ist ihnen nahe und berührt sie. Typische Reaktion: Gedanklich gleich eine ganz neuen Welt entwickeln, lieber über die Gesellschaft und Strukturen als konkrete Menschen reden. Bevorzugtes Format: Reportage oder Portrait, damit andere die Situation nachfühlen und besser verstehen können. Vorteil: Sie sehen das übergreifende Bild, z. B. die Gesamtlage der Menschheit. Nachteil: Zu intellektuell. Sie müssen deshalb oft erleben, dass Pragmatiker entscheiden und nicht Sie. Ihr persönliches Potenzial: Sich mit konkreten Individuen beschäftigen - als Korrektiv gegen zu viel Idealismus.

(Diese Strategie spricht Deniz Yücel in seinem Spiegel-Beitrag an, in dem er meint, dass sich Kulturbetrieb und Feuilleton „Einfluss- und Handlungsmöglichkeiten vorgaukeln“.)

 

7. Strategie: Abstraktion – mehr Realismus

Die siebte denkbare Strategie ist Abstraktion: Gedanklich alles verändern, z. B. Völker hin- und herschieben, Führer austauschen, Militäreinsätze planen. Typische Reaktion: Verbale Welterklärung mit der Tendenz zu langen Monologen. Bevorzugtes Format: Analyse, um die Situation zu durchdringen und möglichst objektiv darzustellen. Vorteil: Sie können die Situation objektiv beurteilen und fühlen sich durch Ihre innere Distanzierung gleichzeitig wenig davon belastet. Nachteile: Es sind mehrheitlich Gedankenspiele ohne praktischen Einfluss. Ihr persönliches Potenzial: Hochfliegende Ideen umsetzbar machen.

 

Jede dieser Bewältigungsstrategien hat ihre Berechtigung und funktioniert bis zu einem gewissen Grad (je höher die Zahl, desto müheloser). Je mehr Sie sich davon erschließen, desto flexibler können Sie reagieren. Im Einzelfall empfiehlt sich für Medienprofis professionelle Begleitung („Supervision“), wie sie in vielen sozialen Berufen verpflichtend ist: Die z. B. monatliche Reflexion des eigenen Handelns - zur Entlastung und Verarbeitung, aber auch um die Qualität der Arbeit zu sichern und zu verbessern. Sie ist insbesondere für Polizei-, Gerichts- und Nachrichten-Reporter und -redakteure ratsam, idealerweise vom Arbeitgeber gefördert.

 

Zur vergangenen Job-Kolumne: Zu müde für Bewerbungen?

 

Zum Autor: Karriere-Coach Attila Albert (geb. 1972) begleitet Medienprofis bei beruflichen Veränderungen. Er hat mehr als 25 Jahre journalistisch gearbeitet, u.a. bei der „Freien Presse“, bei Axel Springer und Ringier. Begleitend studierte er BWL, Webentwicklung und absolvierte eine Coaching-Ausbildung in den USA. www.media-dynamics.org.

 

 

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