Pressefreiheit
DPA

"Spiegel"-Affäre: Als die Bürger ihre Pressefreiheit lieben lernten

Es sollte ein Schlag gegen die freie Presse werden, doch es wurde eine Sternstunde der Pressefreiheit: Ein maßloses Vorgehen gegen investigative Journalisten führte vor 50 Jahren zur "Spiegel"-Affäre. Und die junge Bundesrepublik lernte, wie wertvoll Journalismus ist.

 

 

Hamburg/Berlin  - Bespitzelungen, Durchsuchungen, Festnahmen von Journalisten: Es ist eine Menge, was Justiz und Adenauer-Regierung vor 50 Jahren im Herbst 1962 aufbieten, um das Nachrichtenmagazin "Spiegel" zu treffen. Möglicherweise wollen sie die unbequemen Kritiker in Hamburg sogar "für immer erledigen", wie es Herausgeber Rudolf Augstein damals empfindet. Die Reaktion auf diesen Schlag ist einmalig in der deutschen Mediengeschichte.

Der Politik-Skandal eskaliert am 26. Oktober. Die Kuba-Krise ist auf ihrem Höhepunkt. Ein Atomkrieg liegt in der Luft. Zwei Tage noch, bis die Sowjets auf Kuba endlich ihre Mittelstreckenraketen abbauen, mit denen sie die USA bedrohen. In diesem Klima der Furcht holt die Bonner Republik zum Schlag gegen eines ihrer größten Medienhäuser aus.

Es ist Freitagabend, beim "Spiegel" die Hauptproduktionszeit. Angeführt von Staatsanwalt Siegfried Buback rücken in Hamburg, Bonn und Düsseldorf Polizisten, BKA-Beamte und sogar der Militärische Abschirmdienst an. Redaktionsräume und Wohnungen werden gefilzt, Schreibtische ausgeräumt, Archive versiegelt. "Wir hatten Angst um unser Blatt", erinnert sich der Österreicher Siegfried Kogelfranz (heute 78), damals Redakteur im "Spiegel"-Auslandsressort.

Der junge Herausgeber Augstein und sechs weitere "Spiegel"-Mitarbeiter werden festgenommen. Eine Schlüsselfigur der Affäre trifft es im Spanienurlaub, auf persönliche Anordnung von Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU): Conrad Ahlers, Autor der Titelstory "Bedingt abwehrbereit".

Ahlers' Geschichte, ausgeliefert am 8. Oktober 1962, ist der Stein des Anstoßes. Ihr unangenehmer, wenn auch nicht wirklich überraschender Kern: Die erst sieben Jahre alte Bundeswehr, ja die ganze Bundesrepublik ist für einen Atomkrieg in Mitteleuropa nicht gerüstet. Ein Angriff der Ostblock-Staaten wäre für Millionen Bundesbürger der sichere Tod. Ohne die Unterstützung durch amerikanische Atombomben ginge nichts, so die niederschmetternde und als "streng vertraulich" eingestufte Bilanz des Nato-Planspiels "Fallex 62".

Dies druckt der "Spiegel" - und die Adenauer-Regierung schäumt vor Wut. Ein Gutachter aus Strauß' Verteidigungsministerium zählt 41 von dem Magazin verratene Staatsgeheimnisse. Im Bundestag empört sich Kanzler Adenauer (CDU): "Wir haben einen Abgrund von Landesverrat im Lande." Eine fatale rechtliche Fehleinschätzung, wie sich zeigen wird. Der ambitionierte Minister Strauß hat sich da bereits völlig in seinen Angriff auf den "Spiegel" verrannt. Und sich der Amtsanmaßung und Freiheitsberaubung schuldig gemacht, wie die Bonner Staatsanwaltschaft später feststellt.

So endet die Geschichte wie der Kampf Davids gegen Goliath: "David" Augstein kommt nach 103 Tagen als strahlender Sieger aus der Untersuchungshaft - der Bundesgerichtshof hat ein Verfahren gegen ihn abgelehnt. Sein Magazin ist "ungeheuer aufgewertet", wie der Historiker Hans-Ulrich Wehler rückblickend sagt. In der erodierenden Adenauer-Regierung muss "Goliath" Strauß seinen Posten als Verteidigungsminister räumen. Kanzler wird er nie.

Historisch bedeutsamer als die Männerfehde zwischen Augstein und Strauß ist der gesellschaftliche Wandel, den die "Spiegel"-Affäre einläutete. So gingen Professoren und Studenten erstmals gemeinsam auf die Straßen, um gegen die Verhaftung der Journalisten und für die Pressefreiheit zu demonstrieren. ""Spiegel" tot - Freiheit tot" lautete eine ihrer Parolen. Ein Vorgeschmack auf die 68er.

Der Zeitzeuge und spätere Bundesminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) berichtet kürzlich auf der "Spiegel"-Tagung zum Jahrestag, als er im Oktober 1962 von den Durchsuchungen gehört habe, sei das ein "Kälteschock" für ihn gewesen. Für die Republik war es sicher ein heilsamer Schock: Die Affäre habe entscheidend zur Entwicklung einer vierten Staatsgewalt in Deutschland - der "kritischen Öffentlichkeit" - beigetragen, meint der Historiker Wehler.

Der "Spiegel"-Redakteur Kogelfranz, der damals mit den Kollegen monatelang um die Existenz des Blatts bangt, empfindet die ungeahnte Wertschätzung für die Presse so: "Wir hatten ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Und das stieg von Tag zu Tag, als von den Demonstranten und aus der halben Welt Adressen kamen wie "Durchhalten". Es war ein unglaubliches Gefühl."

Matthias Armborst