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Baha Güngör: "Journalisten in der Türkei arbeiten mit Fäusten in Hosentaschen"

Übernimmt seine Redaktion unkritisch die Nachrichten der Staatsagentur Anadolu Ajansi? Welchen türkischen Medien vertraut er noch? Und warum gibt es in der Türkei keine Sicherheit für Journalisten? Von Bülend Ürük.

Bonn - Im Interview nimmt Baha Güngör, Chef des türkischen Programms des Auslandssenders „Deutsche Welle“, vor allem die am vergangenen Donnerstag von Tayip Erdogan massiv angegriffene "Economist"-Korrespondentin Amberin Zaman in Schutz: "Amberin Zaman kenne ich seit Ende der 80er Jahre. Sie war immer eine unbequeme Kollegin für alle Regierungen seit dieser Zeit. Das war auch gut so!", lobt Güngör die Journalistin.

Baha Güngör war von 1984 bis 1999 als Korrespondent für deutsche Medien in der Türkei. Im Gespräch mit NEWSROOM-Chefredakteur Bülend Ürük schildert Baha Güngör zum ersten Mal, dass die türkische Regierung ihm gleich zweimal seine Akkreditierung entziehen wollte. Grund: Kritik an Erdogans politischem Ziehvater Necmettin Erbakan.

 

Der Journalist Baha Güngör leitet seit 1999 das türkische Programm des Auslandssenders "Deutsche Welle". Er war der erste türkische Volontär einer deutschen Tageszeitung.

 

Nur, so Baha Güngör: "Im Gegensatz zur damaligen Zeit, als der Türkei noch der EU-Prozess am Herzen lag, können sich heute die unbequemen Kollegen und Kollegen nicht darauf verlassen, dass sie nicht doch irgendwo physisch attackiert werden."

Was Erdogan so stark macht, warum Medienmacher leiden, über den Niedergang der freien Presse, warum wirtschaftliche Interessen in Verlagen auch in der Türkei entscheiden - ein Gespräch mit dem profilierten Journalisten, der übrigens 1976 als erster Türke ein Volontariat bei einer deutschen Zeitung absolvierte, der "Kölnischen Rundschau".

Zur Person: Baha Güngör, 1950 in Istanbul geboren, leitet seit 1999 die türkische Redaktion der „Deutschen Welle“. Güngör kam im Rahmen des Familiennachzugs 1961 nach Deutschland, seit 1978 ist er deutscher Staatsbürger. Den Journalismus hat Güngör von der Pike auf gelernt, er war 1976 der erste türkische Volontär einer deutschen Zeitung, der „Kölnischen Rundschau“. Nach dem Volontariat zog es ihn zuerst zum Auslandsdesk der Nachrichtenagentur Reuters nach Bonn, ab 1980 war er dann Politik-Redakteur vom „General-Anzeiger“ in Bonn. 1984 ging Baha Güngör nach Ankara und Istanbul, berichtete für die „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ und weitere Tageszeitungen über die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in der Türkei und in Griechenland. Ab 1991 war er Korrespondent für die Deutsche Presse-Agentur. Güngör ist Autor des Buches "Die Angst der Deutschen vor den Türken und ihrem Beitritt zur EU".

Herr Güngör, Ministerpräsident Tayip Erdogan hat die Präsidentschaftswahlen in der Türkei gewonnen. Haben Sie mit diesem klaren Erfolg im ersten Wahlgang gerechnet?

Baha Güngör: Ja, alle Vorzeichen deuteten darauf hin. Er war Präsidentschaftskandidat und zugleich Ministerpräsident mit dem Vorzug eben, den gesamten Staatsapparat sowie die gleichgeschalteten Massenmedien für sich zu instrumentalisieren.

Scheinbar nach Belieben hat Erdogan bereits den Wahlkampf dominiert. In Istanbul gab es kein Entrinnen vor seinen Wahlkämpfern. Was fasziniert die Menschen an Erdogan?

Baha Güngör: Erdogan hat den Menschen das gegeben, was sie schon seit vielen Jahrzehnten wollten: Ein neues Selbstwertgefühl, eine Identifikation, die leider nur über die Religion möglich war. Die Identifikation als Europäer scheiterte am Widerstand der europäischen Regierungen, der Türkei ihre Heranführung an die EU und an die Werte Europas zu erleichtern.

 

Stimmabgabe in einem Wahllokal im Istanbuler Stadtteil Sariyer bei der sonntäglichen Präsidentschaftswahl in der Türkei. Foto: Fatih Yildirim

 

Das Interesse an der Entwicklung der Türkei scheint in Deutschland in den vergangenen Monaten massiv gestiegen zu sein. Sehr emotional wurde in der vergangenen Woche die Redaktion des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“. Das Hamburger Magazin hat die Türkei-Berichterstattung sogar auf türkisch im Heft veröffentlicht. Was macht die Türkei so interessant für deutsche Medien?

Baha Güngör: Die deutschen Medien greifen immer mehr auf Journalisten mit türkischen Wurzeln zurück, wenn es um die Türkei geht. Sie kennen die Zusammenhänge einfach besser und tragen so zum besseren Verständnis bei. Ohne sie könnte die Türkei-Berichterstattung nur wie in längst vergangenen Zeiten lediglich von zumeist deutschen Kollegen und Kollegen kommen, die sich irgendwelche Zeitungen übersetzen lassen. So gesehen sind die neuen deutschen Medienmacher türkischen Ursprungs für die Türkei-Berichterstattung ebenso gut wie beispielsweise spanische für Lateinamerika, arabische für den arabischen Raum gut sind.

Türkische Journalistin vor laufender Kamera an den Haaren gepackt und zu Boden gerissen

Bei einer Wahlkampfrede in Malatya hat Erdogan am vergangenen Donnerstag die türkische Journalistin Amberin Zaman, Korrespondentin des britischen Magazins „The Economist“, massiv angegriffen. Davor war es „Spiegel“-Korrespondent Hasnain Kazim, der um sein Leben fürchten musste und auf Anweisung seiner Chefredaktion das Land sogar verließ. Inzwischen ist er auf seinen Posten zurückgekehrt. Wie sicher können sich Journalisten in dieser Umgebung noch fühlen?

Baha Güngör: „Sicher fühlen“ können sich nur Journalisten nur, wenn sie keinen „Ärger“ machen. Journalistinnen und Journalisten aber müssen genau das tun, nämlich den Herrschenden auf die Finger schauen und sie kritisieren. Amberin Zaman kenne ich seit Ende der 80er Jahre. Sie war immer eine unbequeme Kollegin für alle Regierungen seit dieser Zeit. Das war auch gut so! Ich selbst war ja als dpa-Korrespondent zweimal vom Entzug meiner Akkreditierung bedroht, weil ich damals den ersten islamistischen Ministerpräsidenten und politischen Ziehvater Erdogans, Necmettin Erbakan, geärgert hatte. Im Gegensatz zur damaligen Zeit, als der Türkei noch der EU-Prozess am Herzen lag, können sich heute die unbequemen Kollegen und Kollegen nicht darauf verlassen, dass sie nicht doch irgendwo physisch attackiert werden. 1997 hatten Fundamentalisten in Sincan bei Ankara eine türkische Kollegin an den Haaren gepackt und zu Boden gerissen, als sie gerade vor der Kamera stand.

Bei Ihrer täglichen Arbeit beim Auslandssender „Deutschen Welle“ greifen Sie nicht nur auf eigene Korrespondenten in der Türkei, sondern auch auf die Berichterstattung der türkischen Medien zurück. Welchen Medienmachern, welchen Medien können Sie noch vertrauen? Heben Sie zum Beispiel Beiträge der Nachrichtenagentur Anadolu Ajansi gleich in ihre Kanäle, so wie deutsche Kollegen Nachrichten der dpa direkt in ihren Medien ausspielen?

Baha Güngör: Nein, unkritisch übernommen werden keine Agenturmeldungen oder Medienberichte. Heute ist es ja möglich, sich zu vergewissern, ob die Berichte so stimmen können, weil die elektronischen Medien Gegenchecks erleichtern. Welchen Medien ich noch vertrauen kann? Das ist sehr sehr schwer, da verlasse ich mich auf meine Spürnase auf der Basis von 38 Jahren Berufslaufbahn zwischen zwei Ländern, zwei Kulturen, zwei sehr heterogenen Gesellschaften.

Was raten Sie gerade jungen Kollegen in Ihrer Redaktion, wie sollen sie mit Berichten der türkischen Medien umgehen? Was ist für die richtige Einordnung wichtig? Wann sollte man als kritischer Journalist und Leser hellhörig werden?

Baha Güngör: Da brauche ich nicht großartig den allwissenden Chef zu spielen. Mein Team ist im Umgang mit türkischen Medien sehr zuverlässig. Zur Klärung von etwaigen Unsicherheiten oder Fragen gibt es die Konferenzen; in ganz dringenden Fällen oder Breaking News einen 24 Stunden offenen Kanal zu mir per Handy.

„Viele türkische Journalisten arbeiten mit Fäusten in Hosentaschen“

Beobachter verstehen oft nicht, dass früher Erdogan-kritische Journalisten bei Zeitungen wie „Sabah“ oder Fernsehsendern wie „atv“ komplett auf AKP-Linie umgeschwenkt sind. Haben Sie Verständnis für Kollegen, die aus Angst um ihrem Job und auf um ihre persönliche Freiheit lieber regierungsfreundliche Berichte verfassen?

 

Auch auf Büyükada, den türkischen Hamptons vor den Toren Istanbuls, ist der Wahlkampf seit Sonntag endlich Geschichte.

 

Baha Güngör: Ich kenne viele Fälle von Kolleginnen und Kollegen, die mit Fäusten in den Hosentaschen leider so arbeiten müssen. Das muss man auch verstehen und akzeptieren, dass der wirtschaftliche Existenzkampf anders nicht gewonnen werden kann. Schade ist nur, dass die Schere im Kopf immer mehr zum Einsatz kommt. Ich kenne die Ehrlichkeit der Betroffenen aus persönlichen Gesprächen, wenn wir uns hier oder in Istanbul treffen.

Sie haben lange Jahre als Korrespondent unter anderem für „Westdeutsche Allgemeine Zeitung“ und Deutsche Presse-Agentur aus Türkei und Griechenland berichtet. Wie hat sich die Türkei im Vergleich zu ihren Jahren in Ankara und Istanbul geändert?

Baha Güngör: Sie hat technologisch, infrastrukturell und auch bei der Wasser- und Stromversorgung Riesensprünge gemacht. Das begeistert die Menschen und marginalisiert die enormen Vorwürfe von Korruption und Amtsmissbrauch an die Adresse von Erdogan und seines Umfelds. Geholfen hat natürlich auch das neue digitale Zeitalter, das den Menschen die Kommunikation untereinander sehr vereinfacht hat.

Zensur, Indoktrination und Totalüberwachung

Was hat sich in der Türkei aus Ihrer Sicht verbessert?

Baha Güngör: Abgesehen von Zensur, Indoktrination von Menschen und Totalüberwachung von Bürgern hat sich das Leben qualitativ sehr verbessert. Die öffentlichen Verkehrsmittel, die Telekommunikation, der Alltag hat sich sehr positiv verändert. Bei schweren Unwettern oder Schneechaos wird die Zeit zwar wieder um Jahrzehnte zurückgedreht, weil das Straßennetz nicht ausreicht. Andererseits aber sind fast alle Metropolen und Städte in Anatolien auch außerhalb der klassischen Mega-Cities wie Istanbul oder Ankara viel moderner geworden.

Gerade auf politischer Ebene gibt es keine gewichtige Konkurrenz zu Erdogans AKP. Die Atatürk-Partei CHP ist ein Schatten ihrer selbst. Halten Sie es für ratsam, dass CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu nach dieser erneuten Niederlage zurücktritt?

Baha Güngör: Der Rücktritt nach verlorenen Wahlen ist in der Türkei nicht die gängige Praxis wie in Deutschland etwa. Ich habe noch keinen Parteichef erlebt, der Wahlniederlagen zum Anlass genommen hat, seinen Posten zu räumen. Kemal Kilicdaroglu, den Erdogan als „Generaldirektor der Partei“ geringschätzt, hat nicht das Charisma, den kemalistischen Eliten zu neuen Ufern zu verhelfen. Das Problem ist nur, dass es auch keine Alternativen zu ihm gibt. Die Republikanische Volkspartei wurde von Flügelkämpfen, Spaltern und nimmersatten Politikern in die heute hoffnungslose Lage manövriert. Es besteht auch keine Aussicht darauf, eine Alternative zur islamisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) Erdogans zu formen.

Zwei Tage vor der Präsidentschaftswahl ist dagegen schon „Hürriyet“-Chefredakteur Enis Berberoglu zurückgetreten. Was bedeutet seine Demission für die Dogan-Holding, an deren Fernseh-Tochter auch das deutsche Medienhaus Axel Springer beteiligt ist und in deren Board Kai Diekmann, Chefredakteur von „Bild“, über die Entwicklung des türkischen Medienkonzerns mitentscheidet?

Baha Güngör: Enis Berberoglu ist ein aufrichtiger, ehrlicher Kollege, der mit seiner kritischen Haltung zu Erdogan die Geschäfte des Medien-Moguls Aydin Dogan bedroht hat. So konnte es nur eine Frage der Zeit sein, wann Aydin Dogan handelt.

Türkei in die EU? "Vergessen Sie's!"

Bis 2023, dem hundertsten Geburtstag der türkischen Republik, möchte Erdogan das Land regieren. Für wie realistisch halten Sie es, dass die Türkei in diesen Jahren vollwertiges Mitglied der Europäischen Union wird?

Baha Güngör: Vergessen Sie's! Die Türkei wird in absehbarer Zeit und zu meinen Lebzeiten kein vollwertiges EU-Mitglied. Dennoch befürworte ich die Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen und warne vor ihrem Abbruch. Es ist der letzte Kanal, durch den die EU noch halbwegs glaubwürdig mit der türkischen Staatsführung kommunizieren und so noch einen Resteinfluss üben kann. Wenn ich danach gefragt werde, warum die Befürwortung der EU-Mitgliedschaft in der Türkei von 75 auf etwas über 40 Prozent gesunken ist, antworte ich mit der Bitte an die Europäer, mal in den Spiegel zu schauen. Sie haben den Türken immer höhere Hürden gesetzt als anderen innenpolitisch und wirtschaftlich maroden Staaten, die schon längst zur EU gehören.

Mit Baha Güngör, Leiter des türkischen Programms der „Deutschen Welle“, sprach Newsroom.de-Chefredakteur Bülend Ürük.